Tocotronic und „Nie wieder Krieg“: Trosttocologie
03.02.2022 | Steffen Schindler
Im Dezember 2021 ging ein Tweet von Teresa Petrik viral, die feststellte, dass es zu jeder Phase der Corona-Pandemie einen passenden Song von Tocotronic gibt: „Sag alles ab“, „Morgen wird wie heute sein“ oder „Jetzt geht wieder alles von vorne los“, zum Beispiel. Bereits im April 2020 hatte die Band mit „Hoffnung“ einen neuen Song veröffentlicht, quasi als Musik zur Zeit. Das dazugehörige Album wurde jedoch wegen der Pandemie verschoben und erscheint jetzt knapp zwei Jahre später. Und (leider) immer noch rechtzeitig
Trotz des politisch aufgeladenen Titels „Nie wieder Krieg“ ist das Album kein pazifistisches Manifest. Eher die Vertonung von Angst, Orientierungslosigkeit, Sehnsucht und, ja, auch „Hoffnung“. Der Krieg, den Tocotronic meinen, ist der im eigenen Kopf. Er beginnt auf dem Titeltrack leise mit Dirk von Lowtzows Bariton und einem Klavier, um, in Gitarrenwände und Glockengeläut gehüllt, in eine Forderung nach dem sprichwörtlichen inneren Frieden überzugehen.
Nach dieser programmatischen Eröffnung lotet die Band die casus belli aus: die Verweigerungshaltung einer „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“, das metaphorische Monster des Selbstmitleids („Ein Monster kam am Morgen“), den „Crash“, den man sich bei einer nächtlichen Autofahrt herbeisehnt oder eine Trennung („Ich hasse es hier“). Aber auch Friedensangebote werden gemacht: von Seelenverwandten („Ich tauche auf“ mit der österreichischen Musikerin Soap&Skin als Gastsängerin), in der Einsicht „Leicht lädiert“ zu sein, auf dem Heimweg von der Party („Nachtflug“).
Im Gegensatz zu den Texten wirkt die Musik oft leicht und unbeschwert: Viele Songs wie „Komm mit in meine freie Welt“ oder „Ich hasse es hier“ werden von den nach vorne gehenden Gitarrenfiguren geprägt, die Tocotronic auf den vergangen Alben scheinbar verlernt hatten. Auch die Streicherarrangements, die sich durch die Songs ziehen, streben empor, wirken gelegentlich fast schon sakral, so wie auf dem Titeltrack oder dem abschließenden „Liebe“.
Auf „Nie wieder Krieg“ geht es um Ausnahmezustände – weniger pandemischer als psychischer, physischer und zwischenmenschlicher Art. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, spenden Tocotronic hier eine dreiviertel Stunde lang Trost. In ihrer Aufrichtigkeit sind die empathischen Texte und die erhebenden Arrangements genau das, was man nach zwei Jahren der Pandemie braucht.
Wertung
„Nie wieder Krieg“ ist das richtige Album zur richtigen Zeit. Alle Herausforderungen der Pandemie, äußerlich wie innerlich, wischt es für eine kurze Zeit weg und sagt uns „Es ist okay“. Schön, dass inmitten aller Unsicherheit zumindest Tocotronic zuverlässig bleiben.
Wertung
"Nie Wieder Krieg" klingt, als würde eure Mama eine warme Decke um euch legen, also eine Decke gefüttert mit der tiefen Selbstzweifel-Melancholie von Tocotronic, aber Decke ist Decke. Nee, mal wirklich Tocotronic machen wieder Musik, die man so auch in ein Reclamheft schreiben könnte, dass das Cover auch noch das gleiche Gelb aufweist, werte ich mal als Zufall. Love it or hate it!
Steffen Schindler
Steffen dankt Nirvana dafür, dass sie die Jugend auf dem Dorf erträglich gemacht haben. Seitdem ist er dem Klang der elektrischen Gitarre verfallen. Mittlerweile studiert er in Berlin Geschichte und Kulturwissenschaft.