Unter dem Radar #29: Chazz Luck
04.11.2021 | Jakob Uhlig
Heimat: Hamburg
Genre: Trap / Synthpop / Retropop
Bisher veröffentlicht: "Regenbogen-Boulevard"-EP (2019), "Sorbet-Land"-EP (2019), zahlreiche Singles
Für Fans von: Haiyti, The Midnight, Ahzumjot
Wenn Kevin Kwabena Pasenau alias Chazz Luck über Musik spricht, dann wird er oft nostalgisch. Die Songs, über die er am liebsten redet, stammen vorwiegend aus einer Zeit, in der er selbst noch gar nicht geboren war. „Bei uns zuhause liefen immer Oldies. Meine Mutter wollte mir diese Musik nahelegen“, erinnert sich Pasenau an seine Kindheit. „Als ich mit 20 ernsthaft angefangen habe, Musik zu machen, habe ich auch aufgrund dieser Prägung dahingehend etwas tiefer geforscht. Ich habe dann zum Beispiel mit Earth, Wind & Fire begonnen. Erst im letzten Sommer habe ich all das aber wieder herausgekramt. Da habe wieder Alben von Toto oder Stevie Wonder gehört.“
Chazz Lucks Musik klingt dabei oft gar nicht so, wie diese Einflüsse es vermuten lassen würden – ganz besonders nicht seine frühen Songs. Im Gegenteil scheint Pasenau einen überaus guten Riecher für die Strömungen der Gegenwart zu haben. Seine ersten Tracks saugen die Ästhetik der boomenden Trap-Bewegung aus den USA in jeder Pore auf. Pasenau hat ein Faible für eine melodisch-verwobene Ausformung seiner Texte, die der verwaschene Sound perfekt vereinnahmen kann. Künstler wie XXXTentacion, die maßgeblich für das Aufkeimen der Szene waren, preist Pasenau aber vor allem wegen ihres Ethos‘, das Musikmachen in die eigene Hand zu nehmen. „Damals kamen diese ganzen Leute, die alles selbst gemacht haben, vom Produzieren bis zum Mixen“, erinnert er sich. „Vorher bin ich immer ins Studio gefahren und habe Geld für die Aufnahmen bezahlt. Gleichzeitig sind diese Trapgeschichten ja auch oft loopbasiert, das war für mich interessant zu lernen. Diese Musik war für mich im Grunde der Einstieg darin, alles in Eigenregie zu machen.“
Diese Do-It-Yourself-Einstellung, die Rap bereits in seinen ersten Zeiten als Underground-Kultur in sich trug und durch die Soundcloud-Szene der zweiten Hälfte der 2010er-Jahre allmählich wieder zurückgewinnt, hat durchaus Anteil daran, dass man Trap als eine moderne Inkarnation der Punkbewegung wahrnehmen kann. Schon der Berliner Produzent Westbam beschrieb 2019 in einem Interview mit Laut.de die neuen Möglichkeiten der elektronischen Musik, in der einfach jeder zuhause mit seinem Laptop große Tracks fertigen kann unter diesem Gedanken. Trap wohnt nebst dieses Ermächtigungs-Narrativs aber auch stets eine Krankheit inne, die den Hip-Hop seit seiner zunehmenden Popularität durch Skandalträchtigkeit umkreist. Misogyne, drogenverherrlichende und gewaltbereite Haltungen, die im deutschen Hip-Hop vor allem seit der Generation Aggro Berlin zum Dauerthema geworden sind und die spätestens seit „#deutschrapmetoo“ auch wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt sind, sind auch in der amerikanischen Trap-Szene ein immer wieder präsenter Bestandteil der Künstlerschaft. Der jung verstorbene XXXTentacion wurde unter anderem der gefährlichen Körperverletzung seiner Exfreundin bezichtigt. 6ix9ine saß für knapp zwei Jahre im Gefängnis, vorgeworfen wurden ihm unter anderem häusliche Gewalt und Vergewaltigung. Schon Jahre zuvor war der Rapper aufgrund sexueller Handlungen mit einer 13-Jährigen für schuldig erklärt worden.
Chazz Luck hatte sich dieser Art personeller Identität in seiner Trap-Interpretation immer entzogen, trotzdem scheint die allgemeine Attitüde der Genre-Vertreter ihre Wirkung nicht verfehlt zu haben. „Ich habe das Gefühl, dass Trap meinem Charakter nicht gerecht wird“, sagt Pasenau. „Die Werte, die dort vermittelt werden, das bin nicht ich. Eigentlich bin ich ein Mensch, der gerne tanzt, der sich nicht beispielsweise über seinen Drogenkonsum definiert. Ich habe mich in meiner Musik auch immer anders dargestellt. Aber wenn ich andere Trap-Songs höre, dann stößt es mich ab, was die Leute sagen. Ich möchte mich damit nicht identifizieren.“
Die Funk- und Soul-Sparten aus den Popwelten der 70er und 80er haben ihre Wirkung auf Pasenau nie ganz verloren, wenngleich er sich in seiner eigenen Musik anderen Sphären widmet und der Sound auch auf privaten Hörebenen zwischenzeitlich etwas ins Hintertreffen gerät. Pasenau interessiert sich trotzdem auch für moderne Interpretationen des Genres. New Funk findet auch in der Lo-Fi-Ästhetik der späten 2010er seinen Platz und Acts wie Thundercat funktionieren wie eine Brücke zwischen Zeitgeist und Retrospektive. Eine solche schlägt auch Pasenaus Interesse für gegenwärtige Synthpop-Acts. Tame Impala, Capital Cities, MGMT oder Kavinsky transferieren einen Sound in die Moderne, dessen Grundansatz Jahrzehnte zurückreicht. „Wenn ich 80er-Drums oder -Synthies höre, dann erinnere ich mich an unseren Küchentisch zurück, an dem ich saß, bevor ich zur Schule gefahren bin“, meint Pasenau. Einen besonderen solcher Rückerinnerungsmomente hat der Künstler, als er eines Tages wieder bei seiner Mutter zuhause sitzt und „I Don’t Want To Be A Hero“ von Johnny Hates Jazz den Raum beschallt. Pasenau beschreibt diesen Moment als Paradigmenwechsel, der ihn zu seinen Ursprüngen zurückführt. „Plötzlich habe ich wieder viele von den Playlisten gehört, die ich damals gemacht habe“, meint er.
Es scheint konsequent, dass diese stark musikalisch behaftete, aber auch wertorientierte Neufindung ihre Auswirkungen auf die Musik von Chazz Luck haben würde. In der neuen Reihe von Singles, die der Künstler seit einigen Monaten veröffentlicht, scheint der Übergang dabei zunächst noch sehr sanft. „Ego“ heißt nach dem auch in Videoform festgehaltenen Prolog der erste neue Song, der nach wie vor mit der Mischung aus Synthesizern, Lo-Fi-E-Drums und melodischem Rap spielt, die Chazz Lucks ursprünglichen Sound ausgemacht hatten. Sehr viel deutlicher wird die Transition aber etwa in „Psycho“, einem Song, in dem Stevie Wonder nicht nur in der Hook zitiert wird, sondern auch im Instrumental erklingt und sich in einer Akkordfolge äußert, deren Ästhetik von Wonder höchstpersönlich stammen könnte. Dieser klangliche Spagat wird vor allem deswegen so interessant, weil Chazz Lucks Musik in ihrer Grundanlage immer wieder auch fast eher einen futuristischen Charakter offenbart hatte. „Paranoia“ klingt mit seiner bebenden Ästhetik nach der Art von Synthwave-Retrospektive, wie sie Acts wie The Midnight heute vertreten: Sie transferieren zeitgleich die Erinnerung an eine Zeit, die viele der Hörenden wahrscheinlich nie erlebt haben, und vermitteln gleichzeitig eine Vorstellung von Zukunft, die die Menschheit vor Jahrzehnten hatte.
Chazz Lucks Sound kann dabei als symbolisch für das gesehen werden, was seine Songs eigentlich vermitteln wollen. Pasenaus Narrative verhandeln viele Fragen von Identität und Ichfindung. Im Video zu „Psycho“ steht er auf einer Theaterbühne und vermittelt so den Eindruck eines Menschen, der eine Rolle nach außen kehrt. Der Clip zu „Paranoia“ zeigt den Künstler bei einer rasenden nächtlichen Autofahrt, eine Hommage an David Lynchs Film „Lost Highway“, in dem der Protagonist seinen Verstand zu verlieren scheint und in dem oft nicht klar wird, wo die Grenze zwischen Realität und Fiktion liegt. In „Omen“ singt Chazz Luck über den Verlust des eigenen Ichs. „Manchmal dreht sich die Welt viel zu schnell / So schnell – es dreht sich der Himmel / Halt mich fest, denn ich verlier mich selbst / Du raubst mir die Sinne“, heißt es in den maßgebenden Zeilen der Hook. „Kennst du das, wenn du mit einem Menschen zusammen bist und die Zeit wie im Flug vergeht?“, fragt Pasenau. „Dann bist du eine Woche mit so jemandem zusammen, fährst nach Hause und bist gerade noch dabei, diese Zeit zu verarbeiten. Wir leben selten wirklich im Moment. Wir sind dem Rad, das wir in unserer Welt geschaffen haben, ausgesetzt. Alles muss besser, schneller und größer werden. Wir sind Opfer unseres eigenen Ehrgeizes und nehmen uns selten Zeit für uns selbst. Diese Zeilen kamen mir in den Sinn, als ich gerade im Flugzeug saß. Manchmal ist es für mich einfach unbegreiflich, was wir Menschen alles erschaffen haben.“
Alle Wege, die Chazz Luck mit seiner Musik geht sind so schlussendlich mit Fragen des eigenen Selbst behaftet. In den Songs des Künstlers werden Verhandlungen um die eigenen Wurzeln aktiv hörbar, verschiedene von Pasenaus künstlerischen Lebensphasen scheinen sich in den Tracks zu überlappen und gegenseitig abzulösen. Erklären lässt sich das nicht allein durch klangliche Präferenzen, denn es wird deutlich, dass Pasenaus Sound auch ganz direkt mit Identität und seinen Werten in Verbindung bringt. Chazz Lucks Songs erweisen sich so auch als Zeitdokument und als die Konsequenz auf der Suche nach der eigenen Echtheit, die im Jahr 2021 gilt. Die im Rap immer wieder vorgeschobene Debatte um die „Realness“ muss dazu keiner hervorkramen, denn es kann ja gerade auch der Anspruch von Kunst sein, artifiziell und unwirklich zu wirken. Aber die Songs von Chazz Luck zeigen, dass die Suche nach Selbstausdruck zu ungewöhnlichen Ergebnissen führen kann, die gerade aufgrund ihrer Nähe zum Ich so stimmig klingen. „Wenn ich mir alte Songs von mir anhöre, fühle ich mich geradewegs zurückgespült zu der Zeit, als ich den Track geschrieben habe“, resümiert Pasenau. „Ich empfinde dafür niemals Scham, ganz egal, wie das Soundbild sein mag. Meine Gefühlslage von damals ist immer legitim. Das sind Gefühle im Allgemeinen.“
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.