Im Kreuzverhör #50: Ryoji Ikeda - "Supercodex"
01.12.2022 | Album der Woche Redaktion
Ich frage mich selbst wie das passieren konnte, aber ich erinnere mich an eine Nacht, in der mich eine ungesund hohe Workload fast bis zum Morgengrauen an den Rechner fesselte. Irgendwie brauchte ich da ganz dringend Musik zum Durchballern - und "Supercodex" von Ryoji Ikeda war die Platte der Wahl, was besonders gut wurde, weil ich mir gerade frisch neue Kopfhörer mit ordentlich Bass gegönnt hatte. Wirklich selten habe ich mich so krass wie ein manisch arbeitender Hacker gefühlt, während ich nach immer penetranter werdenden zyklischen Bass- und Klicklauten gleichzeitig allmählich das Gefühl bekam, wahnsinnig zu werden. Tatsächlich habe ich die gesamte Platte mit dieser nicht gerade einschmeichelnden Ästhetik von vorne bis hinten geschafft, ohne mich danach in die Irrenanstalt einliefern zu lassen. Ikeda hatte mich ursprünglich einmal eher mit seinen zugänglicheren Werken gepackt: Der Künstler präsentiert in Kunstausstellungen regelmäßig audiovisuelle Gesamtkunstwerke, die Computerdaten in Musik umwandeln und daher ähnlich sortiert wirken wie dieses Album, dabei aber ästhetisch - man mag es kaum glauben - geradezu schön sind. Bei "Supercodex" liegt die Schönheit wohl eher in der Ordnung der Sounds als in ihrer klanglichen Eigenheit - und manch einer mag durchaus unterstellen, dass die starke Struktur letztendlich nur zu Monotonie und nicht zu einem aufregenden Klangerlebnis führt. Gerade deswegen ist dieses Album wahrscheinlich am nächsten an der Idee einer "Maschinenkunst" dran, mit allen Vor- und Nachteilen, die man darin erkennen kann. Zusätzliches Plus: Diese Platte eignet sich hervorragend, um meinen AdW-Kolleg:innen im Kreuzverhör auf die Nerven zu gehen. Das sollte eigentlich immer das oberste Qualitätsmerkmal für jede Platte sein.
Ich bin außergewöhnlicher Musik gegenüber eigentlich recht aufgeschlossen. Ich liebe Vaporwave und Broken Transmission und ich kann den Reiz von "Supercodex" auch verstehen, aber was darf Kunst? Darf Kunst körperlich weh tun? Denn das tut sie. Die Frequenzen schmerzen in den Ohren und bin ich sonst jemand, der Musik gerne lauter hören würde, es aus Rücksicht auf mein Gehör dann aber doch lässt, war es hier so, dass ich die Musik nicht leise genug machen konnte. Kamen meine Kopfschmerzen daher, dass ich zu wenig getrunken habe, oder von der Musik? Ich weiß es nicht. Ich mag Floppotron, war auf Breakcore-Partys und hatte auch meine 8-Bit-Phase, aber Ryoji Ikeda ist echt hart. In den YouTube-Kommentaren reden die Leute davon, dass sie das zum Schlafen hören. Wie geil auf Albträume kannst du sein? Also ja, es ist Musik und die Leistung dahinter sicherlich nicht zu verachten, aber ich fühle keinen Drang danach, es noch einmal zu hören. Aber ich verstehe dennoch irgendwie, warum es Menschen gibt, die das hören wollen. Ich gehöre nicht dazu.
Eigentlich habe ich gerade eine richtig gute Zeit bei diesem wunderbaren Fanzine. Die zuletzt besuchten Konzerte waren wirklich großartige Erlebnisse, ich darf (meistens) spannende Alben rezensieren und mag die Kollegschaft von Tag zu Tag ein bisschen mehr. Was viele Leser*Innen bisher nicht wissen ist, dass ich im Hintergrund versuche einmal im Monat eine Hand voll Redaktionsmitglieder zu einem festen Ritual zusammen zu bringen: Dem Kreuzverhör. Eine meiner Regeln dabei ist, in kein Album reinzuhören bevor ich es in dieses Format einbaue, vor allem wenn ich selbst teilnehme. Das ist alternativlos, und doch bereue ich es heute mal wieder zutiefst. Ich wähle daher heute die persönliche Ansprache: Lieber Jakob... WAS IST DAS BITTE?! Ich gebe es ja zu, die Idee aus all diesen Fetzen und abgehackten Geräuschen "Musik" zusammenzuschustern, hätte uns beiden im passenden Zustand auch kommen können. Wir hätten bestimmt sogar noch Gesang hinzugefügt, um das Chaos zu vervollständigen. "Bisschen Blech, bisschen Lack, fertig ist der Hanomag" - sagt man bei uns auf dem Land. Und auch wenn ich mit landwirtschaftlichen Maschinen recht wenig am Hut habe, möchte ich jedem Traktormotor lieber eine geschlagene Stunde mein Ohr leihen als Ryoji Ikeda.
Da ich schon sehr oft an diesem Format hier teilgenommen habe und dabei viel zu oft Zeug vorgesetzt bekommen habe, das offensichtlich rein aus der Absicht ausgewählt (manchmal habe ich sogar das Gefühl geschrieben) wurde, um die anderen Teilnehmenden in den mentalen Ruin zu treiben, ist “Supercodex” tatsächlich nicht die erste Begegnung mit japanischer Elektro-Noise-Mucke. Aber entweder ist Merzbow’s “Pulse Demon” nochmal ein anderes Biest, oder ich bin mittlerweile wahlweise abgestumpft oder offener für sowas. Klar, beim ersten Song dachte ich mir noch, so muss sich der Tinnitus des Terminators anhören, aber je mehr Zeit und Tracks verstrichen, desto mehr packte mich dieses Album geradezu. Die fast linear zunehmende Komplexität in all dem Fiepen und Surren offenbarte irgendwann immer öfter Elemente und Passagen, die sowas wie Rhythmus vermuten ließen. Das Hören von “Supercodex” wurde ab diesem Zeitpunkt für mich zu einer akustischen Schnitzeljagd, bei der ich stets gespannt war auf den nächsten weirden Klang, den Ikeda jetzt zu seinem Beatmonstrum hinzufügen würde. Ist das eine Kickdrum? Höre ich da etwa einen Takt raus? Wo hört ein Song auf, wo fängt der nächste an? Diese Fragen hielten mich bei der Stange und zwischen meinen Kopfhörern. Klar, “Supercodex” wird nicht zu meiner neuen go-to Lounge-Platte, aber ich habe trotzdem das schöne Gefühl, wieder irgendwas neues entdeckt zu haben, und nach ein bisschen YouTube-Recherche zu seiner Person Lust bekommen, mir mal irgendwann eine von Ikedas Installationen anzuschauen/hören.