Kora Winter sprechen über „Bitter“: Die Chronik einer Selbstfindung
13.09.2019 | Jakob Uhlig
2. Mai 2017
Eigentlich ist der Job von Hakan Halaç am heutigen Tag, über „Welk“ zu sprechen. Der Release von Kora Winters zweiter EP liegt gerade einmal zwei Wochen zurück, die Promotionphase der aktuellen Veröffentlichung betreibt die Band mit viel Eifer. Der Sänger ist uns an diesem Tag via Skype zugeschaltet und reflektiert ausführlich über Songwriting-Ideen und die textlichen Konzepte der aktuellen Platte. Und doch merkt man ihm den Tatendrang an, der ihn innerlich schon zum nächsten Projekt führt. Auf die Frage, ob er in Gedanken schon beim Debütalbum wäre, antwortet er: „‚In Gedanken‘ ist gut – das Ding ist so gut wie fertig. Wir haben wahnsinnig lange an ‚Welk‘ gearbeitet und dabei parallel schon das Album geschrieben. Der Prozess der EP war so langwierig und mit so vielen Rückschlägen verbunden, dass wir letztendlich in unserer Arbeitsweise einfach viel schneller wurden.“ Halaç klingt deswegen auch schon recht sicher, wenn er über die Relation der zwei Vorprojekte zur neuen Platte spricht. Er bezeichnet die EPs „Blüht“ und „Welk“ konzeptuell als „Prequel vor dem Hauptfilm“ und beschreibt das kommende Album als Ergebnis eines Ground Zeros, der sich von seinen Vorgängern abhebt. Kora Winters Debütalbum scheint eine gefestigte Frage der nahen Zukunft zu sein. Der Antrieb der Maschine klingt geölt.
12. Januar 2019
Mehr als anderthalb Jahre sind seit diesem Gespräch mittlerweile vergangen, doch das Debütalbum von Kora Winter ist nach wie vor nicht erschienen. Halaç ist mit seiner Band heute im Club Hanseat in Salzwedel, einer urtümlichen Kleinstadt in Sachsen-Anhalt. Das Quintett ist gemeinsam mit Donnokov und Finte unterwegs, am Vortag haben alle drei schon in Jena gespielt. Es sind die ersten Konzerte, die Kora Winter seit längerer Zeit antreten. Eigentlich hatte das Quintett schon vorher diverse Termine angekündigt, im März 2018 verkünden die Berliner dann aber die Absage aller Gigs. Der Entstehungsprozess des Albums nimmt zu viel Zeit ein, als dass noch gedanklicher Raum für Shows in allen Teilen der Republik wäre. „Wir wollen uns selbst mit diesem Album übertreffen, was viel Zeit und Nerven kostet“, schreibt die Band dazu auf ihrer Facebook-Seite. „Diese Entscheidung ist uns alles andere als einfach gefallen, doch wir konzentrieren unsere Energie eher auf eine Sache, statt dass entweder das Album oder die Shows darunter leiden. Wir hoffen auf euer Verständnis.“
„Wir haben schon lange damit gerungen, weil da echt Einiges dabei war, was wir wirklich gerne gespielt hätten“, erzählt Halaç rückblickend. „Es ist in unserem Stadium ja sowieso nicht so einfach, Shows zu bekommen. Da stellen Freunde von dir für dich etwas auf die Beine und du musst sagen, dass du nicht kannst. Das tut schon extrem weh.“ Halaç sitzt auf einer Couch im Backstage des Club Hanseat und nippt an einer Limonade. Um ihn herum wuseln eine ganze Schar an Menschen, die die Technik des anstehenden Konzerts vorbereiten. Der Auftritt aller Bands wird live ins Internet übertragen und die Betreiber des Clubs haben ein kleines Fernsehstudio auf die Beine gestellt, dessen Aufbau einiges an Energie kostet. Mitten in diesem Trubel muss Halaç das Gespräch sogar einmal unterbrechen, weil er ein Kabel um seinen Sitzplatz reichen muss. „Wir haben im Frühjahr gemerkt, dass wir so lange nicht mehr live gespielt hatten, dass wir erstmal Zeit hätten investieren müssen, um uns das Set wieder anzutrainieren. Wir waren aber so im Aufnahmeprozess gefangen, dass im Terminkalender dafür überhaupt kein Platz mehr war. Da wollten wir uns lieber auf eine Sache fokussieren, bevor wir uns wieder zehntausend Dinge aufhalsen.“
Dass Kora Winter jetzt wieder Shows spielen, deutet darauf hin, dass der Prozess zu ihrem Debütalbum langsam endlich konkreter wird. Zumindest ein etwas engerer Zeitraum für den Release ist mittlerweile angepeilt, die Band spricht vom Juli 2019. „Ich überlege ganz oft, was der Grund dafür ist, dass es so lange gedauert hat. Wir hatten das Album schon lange zumindest zu großen Teilen fertiggeschrieben“, reflektiert Halaç den Entstehungsprozess der kommenden Platte. „Als wir damals das Skype-Gespräch geführt hatten, stand das Skelett des Albums eigentlich schon. Die Aufnahmephase hat sich aber so lange gezogen, dass daraus jetzt irgendwie zwei Jahre geworden sind. Dann ist uns mal eine Festplatte abgeraucht und wir mussten manche Spuren nochmal aufnehmen. Wir sind außerdem zwischendurch beim Aufnehmen effizienter geworden – paradoxerweise mussten wir dafür aber wieder erstmal etwas Zeit investieren.“ Spurlos davongezogen ist diese Zeit auch an Halaç nicht. Das langwierige Prozedere des ersten Longplayers zehrt phasenweise an den Nerven der Band und es ist kein Wunder, dass man dem Sänger eine gewisse Erleichterung anmerkt. „Es ist für mich das erste Mal in meinem Leben, dass ich das Gefühl habe, dass Leute musikalisch auf etwas von mir warten“, beschreibt er seine Gedanken hinsichtlich des geplanten Releases. „Deswegen dachte ich auch: Wie können wir denn diese paar Menschen, die das Album wirklich hören wollen, zwei Jahre vertrösten? Irgendwann habe ich aber erkannt, dass Druck auch kein Allheilmittel ist.“
Kora Winter ziehen aus diesem Prozess Konsequenzen. Den technischen Feinschliff der Platte nehmen sie erstmals nicht mehr selbst in die Hand, sondern geben ihn an eine helfende Hand ab. „Yuki [Sorgler, Gitarrist der Band] ist schon wahnsinnig geworden, weil die Arbeit an den Gitarren so viel wurde“, erklärt Halaç den Weg zu dieser Entscheidung. „Die größte Einsicht daraus ist, dass wir das Mixing und Mastering abgeben werden. Dieses Mal nehmen wir schließlich nicht drei Songs für eine EP, sondern ein ganzes Album auf.“ Für das Mischen ihrer Platte hat sich die Band für Nikita Kamprad entschieden, der neben seiner Tätigkeit als Produzent auch als Sänger der Black-Metal-Querdenker von Der Weg einer Freiheit agiert. Für Halaç ist diese Personalie als Fan ebenjener Band nicht nur ein heimlich gehegter Traum, sondern auch die Chance, sich voll auf die wesentliche Grundarbeit zu konzentrieren. „Ich habe mich lange davon abfucken lassen und war total genervt, dass es so lange gedauert hat“, beschreibt er seine zwischenzeitliche Krisenstimmung. „Irgendwann habe ich aber realisiert, dass wir dem Projekt auch einfach die Zeit geben können, die es braucht. Wir haben ja keinen Druck von außen, wir müssen uns nicht irgendwelchen kommerziellen Konventionen fügen.“
Zeit brauchte Halaç in den letzten Jahren nicht nur für seine Musik, sondern auch für sich selbst. Schon auf Kora Winters beiden EPs wurde deutlich, wie sehr der Berliner mit seinen Gefühlen zu kämpfen hat. In den Texten der Band spielten sich immer wieder innere Dramen ab, die Halaç vor allem mit aggressiver Kriegswut beantwortete. Heute scheint der Sänger etwas Distanz zu dieser Phase gewonnen zu haben und blickt reflektiert auf seine Denkprozesse zurück. „In den letzten zwei Jahren hat mich nicht die Welt um mich herum, sondern die Welt in mir drin am meisten beschäftigt“, erklärt er. „Ich habe untersucht, aus welchen Identitäten sich meine Psyche zusammensetzt. Ich wollte mich nicht mehr als homogene Linie sehen, sondern erkennen, welche Umstände mich eigentlich zu welchem Menschen machen. Das alles kam durch einen krassen Knick in meinem Leben, der vor etwa drei Jahren passiert ist. Danach hat sich wahnsinnig viel in mir verändert, ich habe mich selbst neu fokussiert, viele Sachen über mich erkannt.“
Halaçs innere Weiterentwicklung ist in Korrelation mit der langen Produktionsdauer der Platte fast schon ein glücklicher Umstand. Die Texte des Albums können dank ihres breiten Entstehungszeitraums eine Entwicklung in der Persönlichkeit des Sängers abbilden und stellen nicht nur eine Momentaufnahme dar. „Ich habe die erste Hälfte der Texte relativ nah zur Entstehung der Instrumentals geschrieben, weil wir dachten, dass die Platte bald rauskommt“, berichtet Halaç. „Mit den restlichen Songs habe ich aber dann ein wenig gewartet. Deswegen hört man interessanterweise auch eine Progression auf dem Album. Am Anfang scheint noch deutlich meine Sichtweise von vor zwei Jahren durch. Danach merkt man aber krass, wie sich meine Ansichten verschoben haben. Ich bin eigentlich ganz froh, dass es so gelaufen ist. So ist das Album wie eine Art Fotobuch von mir selbst, in dem ich sehen kann, wie ich vor zwei Jahren drauf war.“
Das Umgehen mit der eigenen Vergangenheit erfährt auf Kora Winters Platte einen kathartischen Schlusspunkt – dabei erweist sich der Umgang mit alten Werken bisweilen auch als Problem, eben weil die Ansichten des damaligen Halaçs nicht mehr den heutigen entsprechen. Einen Song der „Welk“-EP spielen Kora Winter aus diesem Grund nicht mehr in seiner Urform auf Konzerten. In „Bluten“ kanalisiert Halaç seine Wut, indem er in einer Passage eine wüste Beleidigung ausspricht – eine Ausdrucksform, hinter der er heute nicht mehr stehen kann. „Da habe ich schon gemerkt, dass ich nicht mehr der 19-, 20-jährige von damals bin, obwohl ich nur vier Jahre älter geworden bin“, beschreibt Halaç seine Gefühle hinsichtlich alter Werke. „Auf dem Album finde ich das aber in Ordnung, weil ich man darauf die Entwicklung hört. Es zeigt eben nicht nur eine Momentaufnahme, sondern mehrere Kapitel über einen langen Zeitraum, in dem viele Dinge an meinen Nerven gezerrt haben.“ So fungieren die Texte auf Kora Winters neuer Platte als Reinigung und beschränken sich dabei nicht nur auf einen retrospektiven Rückblick auf die dämonische Vergangenheit, sondern führen die Katharsis auch selbst herbei. „Ich benutze Texte von früher auch, um zu reflektieren. Meistens denke ich beim Schreiben selbst gar nicht so viel nach, was ich da gerade zu Papier bringe. Bei vielen Texten fällt mir erst lange Zeit später auf, was die damaligen Umstände gewesen sind, wegen denen ich mich so entwickelt habe.“
Um diese Entwicklung herbeizuführen und den Schreibprozess ihres Debütalbums in Gang zu bringen, gehen Kora Winter 2017 für einige Tage in ein abgelegenes Haus in Brandenburg. Das Gebäude gehört einem Freund der Band und steht leer. In der Abgeschiedenheit gibt es nicht viel zu tun und damit wenig Möglichkeit, sich vom Arbeiten abzulenken. „Das Haus wurde gerade noch ausgebaut und war nicht so wirklich bewohnbar. Es ist ein bisschen gruselig da, wie so ein Horrorhaus, das man aus Filmen kennt – sehr staubig, ziemlich schlecht isoliert“, erinnert sich Halaç und fügt lachend hinzu: „Das war der perfekte Ort, um das Album fertig zu schreiben.“ Später nehmen Kora Winter auch noch die Schlagzeug-Spuren in der ungewöhnlichen Kulisse auf und unterstreichen damit den besonderen Spirit, der aus dem Arbeitsprozess der Band tönt, der aber auch seinen Tribut fordert: „Das Schreiben an diesem Ort hat uns manchmal ein bisschen verrückt gemacht, vor allem mich. An einer Stelle bin ich echt paranoid geworden. Aber was soll’s – alles für die Musik.“ Halaç wird einige Monate später noch einmal über diese Situation nachdenken. Für heute schütteln Kora Winter aber alle Erlebnisse der vergangenen Tage von sich ab. Als sie im Club Hanseat auf die Bühne gehen, klingt alles nach Befreiungsschlag. Ein Glück, dass die neuen Songs endlich mal aus dem Proberaum können.
27. August 2019
Einige Monate später steht der Release von Kora Winters Debütalbum noch immer aus, so konkret stand die Band der Veröffentlichung aber noch nie bevor. Inzwischen sind alle Songs der nun „Bitter“ betitelten Platte komplett fertiggestellt, der 13. September ist als Erscheinungsdatum festgelegt. Hakan Halaç spricht noch einmal mit uns über seine Gefühle zum nun abgeschlossenen Album. Er ist wieder via Skype zugeschaltet und liegt etwas geschafft auf einer Couch. Der Abschluss des Kora-Winter-Albums hat offenbar seinen Tatendrang geweckt, gerade hat er parallel noch die erste EP seines Soloprojekts Haxan veröffentlicht. „Ich hatte echt ein paar harte Tage. Ich weiß auch nicht, wie ich auf die Idee gekommen bin, alles was ich in den letzten zwei Jahren so gemacht habe auf einmal zu releasen. Ich trage die Konsequenzen mit Würde“, sagt er schmunzelnd.
Dass „Bitter“ noch einmal einige Wochen mehr gebraucht hat, liegt unter anderem in den minutiösen letzten paar Prozent begründet. Halaç arbeitet in den letzten Zügen noch an vielen Kleinigkeiten, die das Album runder machen. „Wir haben diesen Finishing-Prozess etwas unterschätzt, wir sind jetzt doch detailverliebter an die Platte gegangen als gedacht. Ich habe dieses Mal viel mitproduziert, bin noch recht stark in die Spuren gegangen, habe viel so klangästhetische Geschichten gemacht“, beschreibt Halaç die letzten Schritte zur Finalisierung des Projekts. In der Tat hört man „Bitter“ diese Kleinarbeit an. Das Album wird mit düsteren Orgelklängen eröffnet, in „Das was dich nicht frisst“ und dem Titelsong erweitert Gitarrist Yuki Sorgler die Soundschichten durch ein Klavier, in „Coriolis“ verwendet die Band sehr bildhaft seichte Regenschauer. Auch im Großformat nehmen Kora Winter noch Überarbeitungen vor, einen im Januar noch als Closer vorgesehenen Song streichen sie komplett, weil „Hagel“ mit seinem übermannenden Finale als Abschluss bereits schwer genug wiegt.
Dass „Bitter“ noch so viel Sorgfalt in den abschließenden Zügen benötigt, hängt auch damit zusammen, dass Kora Winters erster Longplayer im Kosmos des Quintetts eine bisher ungekannte Arbeit erfordert. „Wir wollten kein ‚Welk‘ auf 40 Minuten machen“, erklärt Halaç den Unterschied zu bisherigen Projekten. „Eigentlich liebe ich das EP-Format. Durch die Zeitlimitationen nimmt es dir niemand übel, wenn du total verrückte Sachen machst, weil sowas durch die Kürze des Werks viel besser hängenbleibt. Wenn du aber auf einem Album bei jedem Song die krasseste Super-Idee einbaust, dann kann das wirken, als würdest du es zu sehr versuchen. Das Ziel war dieses Mal ein Gesamtvibe über die ganze Platte, in dem alles mit allem zusammenspielt.“ Erst durch diese Kongruenz aller musikalischen Mittel wird „Bitter“ schließlich zu dem allumfassenden Album, das es geworden ist. Halaçs kathartische Fortentwicklung wird deshalb so nahbar, weil man auf der Platte in jeder Minute spürt, dass alle Momentaufnahmen aus der selben Feder stammen.
Nachdem „Bitter“ nun ein vollendetes Produkt ist, denkt Halaç noch einmal über dessen Ursprünge nach – und kommt dabei wieder auf seine Erlebnisse in dem Haus in Brandenburg zurück, die sich im Nachhinein als prägnantes Gefühlsabbild des Sängers erweisen. „Als wir da draußen waren, gab es einen Moment, an dem ich einen regelrechten Nervenzusammenbruch hatte“, beschreibt Halaç die Situation. „Ich wusste gar nicht, woher der kam. Ich bin dann auch früher nach Hause gefahren als die anderen. Im Grunde handelt das Album genau von diesen Momenten. Ich habe in dem Augenblick über genau den Augenblick selbst geschrieben, ohne das wirklich geahnt zu haben.“ Die Erinnerung an dieses Erlebnis begleitet den Sänger noch lange Zeit danach – vor allem, weil er selbst erst einmal verarbeiten muss, was in diesem Moment eigentlich mit ihm geschehen ist. „Ich denke, ich war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bereit, einen Schritt zurück zu gehen“, sagt er heute. „Wir haben diese Session an einem Punkt gemacht, an dem noch viel an Grundstrukturen gearbeitet werden musste. Da hatte ich kaum was zu tun, es mussten Gitarre, Bass und Schlagzeug gemacht werden. Im Nachhinein merke ich, dass das eigentlich gar nicht so schlimm war. Ich hätte einfach die Zeit genießen und nichts machen können. Aber damals dachte ich, dass alles an mir vorbeizieht. An diesem Punkt meines Lebens war ich sowieso sehr fragil und glaubte, nicht dazuzugehören. Dieses Gefühl hat sich potenziert. Ich dachte, dass mich hier niemand braucht. Davon bin ich verrückt geworden. Die Jungs haben damals glaube ich gar nicht so richtig verstanden, was mit mir los war. Das habe ich selbst ja auch nicht.“
Dieses Erlebnis steht geradezu symbolisch für den Anfangspunkt der Wandlung, die Halaç im Entstehungsprozess von „Bitter“ durchmacht. In der folgenden Zeit wird er viel über sich selbst erkennen. Seine Gedanken zieht er aus dem Schreiben von Texten, bei denen er manchmal erst im Nachklang bemerkt, wie prägnant ihn diese eigentlich wiederspiegeln. Kora Winters Album lässt sich deswegen wie das Zeugnis einer Selbsttherapie hören, wie das Kollektiv vieler Augenblicke der Erkenntnis. Halaçs Gefühl der Isolation klingt zum Beispiel sehr deutlich aus dem frustrierten Titelsong heraus, in dem der Protagonist sich verlassen in der Drogenhölle seines eigenen Zuhauses wiederfindet. „5 Gramm tun ihren Zweck/ Und der Abend ist perfekt/ Meine Nachbarn haben Sex/ Ich penn vor der Glotze weg“, heißt es da unterlegt von obskur tänzelnden Klavierakkorden, die sehr bildlich aufkeimenden Wahnsinn abbilden.
Den ersten Schritt zur Heilung aus diesem Tiefpunkt findet sich aber im Song „Eifer“, an den Halaç sich als Startpunkt eines neuen Selbstbewusstseins erinnert. Inmitten zweier Schwalle an verzweifelten Schreien halten Kora Winter kurz inne, inszenieren drei Zeilen beinahe isoliert von jeglichem Instrumental und schaffen damit einen der größten Momente des Albums: „Im Eifer des Gefechts hab ich vergessen wie man lacht/ Ich hab die ganze Zeit damit verbracht nur zu schreien/ Denn dieses Leben wird mein letztes sein.“ Diese Worte machen „Eifer“ zu einem schmerzhaften Moment der Selbsterkenntnis, ein wortwörtlich bitteres Eingeständnis der eigenen Traurigkeit und Destruktivität. „Diese Zeilen in ‚Eifer‘ waren vielleicht der erste Moment, in dem ich eine neue Perspektive auf mein Leben eingenommen habe“, beschreibt Halaç die Wirkung seiner eigenen Worte rückblickend. „Ich habe mir eingestanden, dass in diesem ganzen Um-mich-schlagen eigentlich nichts Anderes als ein Hilferuf steckt. Ich habe wohl insgeheim gehofft, dass jemand merkt, dass ich Halt brauche.“ Aus Halaçs Beschreibung seiner eigenen Verhaltensweisen spricht ein doppeltes Problem. Die eine Seite der Medaille ist die Unfähigkeit, seine eigenen Gefühle richtig wahrzunehmen, die andere ist die Außenwelt, die diese unbewussten Schreie nicht ernst nimmt. Beide Abgründe muss Kora Winters Debütalbum überwinden. Hilfreich dabei ist auch Bassist Karsten Köberich, der auf „Bitter“ nicht nur viele eigene Gesangspassagen innehat, sondern auch auf textlicher und persönlicher Ebene großen Einfluss auf Halaç genommen hat. „Wir sind uns als Menschen sehr ähnlich“, meint Halaç dazu. „Ich habe mich immer wieder selbst in ihm erkannt. So habe ich ein wenig ‚mit ihm‘ geschrieben.“
Ein Motiv dieser Selbsterkundung ist das „Hotel mit tausend Zimmern“, eine stetig wiederkehrende Metapher, die auf „Bitter“ mannigfaltige Gefühlsebenen vermittelt und die auch im Video zu „Eifer“ den Schauplatz stellt. „Das Hotel mit tausend Zimmern steht für eine komplexe Persönlichkeit, von der man gar nicht weiß, dass es sie gibt. Ständig findet man neue Zimmer und verliert irgendwann den Überblick“, erklärt Halaç den Hintergrund des wiederkehrenden Bausteins. „Anderseits ist es aber auch eine Metapher für das Gefühl des Verlorenseins. Als ich diese Zeile zum ersten Mal geschrieben habe, habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, in einem Hotel zu stehen und zu vergessen, welches sein Zimmer ist. Du klopfst an jede Tür, alles sieht gleich aus und du weißt, dass es eigentlich völlig egal ist, weil eh jedes Zimmer wie das andere ist und weil irgendjemand es jeden Tag so herrichtet, dass es wie vorher aussieht. Aus dieser Zeile spricht Kontrollverlust.“ Für Halaç ist die Lehre aus diesem Bild, dass er die Macht über sich selbst wiedererlangen muss. „In einem Hotel kommt irgendwann der Room Service rein und räumt den Dreck weg, den du gemacht hast. Du gehst davon aus, dass das passiert, aber es entspricht eben nicht der Realität. Ein Hotel ist kein echter Ort, darin kannst du nicht wirklich wohnen. Du denkst die ganze Zeit, dass das Leben sich um dich herumdreht. Aber das Leben ist kein Scheiß-Hotel.“
Der Weg zu dieser Erkenntnis ist kein einfacher. Zu akzeptieren, dass man nicht mehr Herrscher über den eigenen Kopf ist, wiegt schwer. Aber im Gegensatz zu vielen anderen hat Halaç das Glück, sich in seiner Band fallen lassen zu können. „Man darf nicht vergessen: Ich hätte mich niemals in den Texten oder in der Musik so entfalten können, wenn es nicht die Band dazu gäbe“, sagt er mit nicht zu versteckendem Glück in der Stimme. „Das hätte alles nicht so einen Einfluss auf mich, wenn der Rest von Kora Winter auf seine Art und Weise nicht genau so kreativ wäre. Ich habe das große Privileg, mich in Leute reinlegen zu können, die auch versuchen, musikalisch etwas anders zu machen und sich auszudrücken.“
In der Tat wirkt die kathartische Selbsterfahrung auf „Bitter“ vor allem deswegen so wuchtig, weil sie mit ebenso gewaltsamem Kummer vertont ist, wie die Lyrik es vorgibt. Das frustrierte „Deine Freunde“ erweist sich so zum Beispiel als martialischer Hass-Brocken, in dem Halaç noch deutlich hörbar angreift und dafür von seiner Band ein absolut monströses musikalisches Herzpochen geliefert bekommt, das förmlich im Adrenalin ertrinkt. Kora Winters enorme Reifung in der Arbeit mit Songkonzeptionen und Klangästhetik wird in jeder Note ihres Debüts deutlich, ganz besonders in „Coriolis“, für dessen Erklärung Halaç auf seinen Bandkollegen Köberich verweist, der die Hintergründe des Songs später per Sprachnachricht nachliefert. „Ich habe damals einen Kurs an der Uni besucht, der hieß ‚Meteorologie und Klimatologie‘“, berichtet er. „Darin wurde anderem die Coriolis-Kraft und die Entstehung verschiedener Sturmsysteme thematisiert. Ich war damals ziemlich fasziniert davon und konnte die anderen dafür begeistern, die Songstruktur einem tropischen Wirbelsturm anzupassen, der quasi über dich hinwegfegt.“ Die Struktur des Songs wird unter diesem Gesichtspunkt deutlich nachvollziehbar: Zu Beginn des Tracks jagen Kora Winter gemäß der zerstörerischen Kraft eines Unwetters ungehalten los, bevor sich in der Mitte urplötzlich das fast windstille Auge des Sturms mit sanften Regengeräuschen öffnet. Köberich selbst singt dort einen ergreifenden Klagegesang, bevor sich der Song mit den Worten „Oh Zyklon“ wieder zum unbarmherzigen Wind auftürmt.
Köberichs Text ist dabei inspiriert von der namensgebenden Coriolis-Kraft, die in etwa so funktioniert, als würde man auf einer rotierenden Scheibe stehen und versuchen, den Rand in einer geraden Linie zu erreichen. In diesem Moment würde allerdings die Drehung dafür sorgen, dass man einen Bogen läuft und sein Ziel wahrscheinlich verfehlt. „Dieses Bild hat stark mit mir resoniert“, erklärt Köberich. „In eher depressiven Lebensphasen habe ich starke Ablenkungsmechanismen entwickelt, um schwierigen Entscheidungen aus dem Weg zu gehen und definitiv alles andere als zielgerichtet agiert. Ich war immer ein Mensch der Umwege und bin es teilweise immer noch. Ich habe mich schon mehr als einmal im Kreis gedreht.“ Dass Kora Winters Musik so gut funktioniert, weil alle Akteure auf einer Wellenlänge agieren, wird aus diesem Beispiel sehr deutlich. „Mit Karsten im Studio zu sein ist wirklich unglaublich, weil er weiß, wie er an seine Substanz gehen kann“, meint deswegen auch Halaç. „Ich arbeite beim Aufnehmen auf eine ganz andere Art und Weise, ich klinge live auch ganz anders als auf Platte. Aber Karsten geht wirklich bei jeder Performance an seine Grenzen, auch psychisch. Jeder seiner Takes ist Gold. Deswegen wollte ich auch immer mehr von ihm haben – er ist auf diesem Album wohl mein persönliches Highlight.“
Am Ende ist der gesamte Schaffungsprozess von „Bitter“ mit all seinen Höhen und Tiefen, mit seinen Krisen und dem unbändigen Wiederaufbäumen, mit seiner Langwierigkeit und seiner unvergleichlichen Feinarbeit das treffendste Sinnbild überhaupt, denn um genau diesen Prozess des immer wieder mit sich selbst Haderns und der Überwindung des eigenen Kontrollverlusts geht es auf dem Album. Kora Winters Debüt ist eine in sich gekehrte Schleife, die aus sich selbst entstanden ist, immer wieder die eigenen Dilemmata thematisiert und am Ende an einem reinigenden Resultat angekommen ist. „Die Möglichkeiten sich abzulenken werden immer krasser“, überlegt Halaç und bezieht dabei seine eigenen Dämonen auf gesamtgesellschaftliche Widrigkeiten. „Es klingt komisch, aber es gibt heute einfach viel mehr Möglichkeiten, depressiv zu werden. Unsere Welt ist immer mehr darauf getrimmt, sich weniger im Moment zu befinden. Ich schaffe das auch nicht mehr. Man vergisst sehr oft was man hat, weil man die ganze Zeit darin verstrickt ist, sich Gedanken zu machen, ob man das morgen immer noch haben wird. In genau dieser Verlustangst steckt ein riesiges Potential, traurig zu werden.“
Der rettende Anker wird schließlich aber im Cover von „Bitter“ festgehalten. Darauf zu sehen ist eine abstrahierte Version von Laokoon, einer Figur aus der griechischen Mythologie. „Ich fand den Hintergrund der Figur eigentlich gar nicht so wichtig, sondern vielmehr den Ausdruck in ihrem Gesicht“, resümiert Halaç. „Der ist einfach so unendlich leidend. Als ich ein bisschen mit dem Bild herumgespielt habe, stellte ich fest, dass durch eine Spiegelung in der Mitte aus dem einen Auge ein Herz wird. Ich finde das so eine fantastische Symbolik. Egal, wie viel Schmerz um alles herum ist, im Zentrum von allem steht immer die Liebe. Zusammen mit dem Albumtitel hat das eine schöne Dissonanz.“
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.