Lina Burghausen über „365 Female MCs“: Wie Rap sich verändern kann
07.11.2019 | Jakob Uhlig
„Ich glaube, dass HipHop das Potential hat, sich zu verändern, weil er das schon in seinem Wesen trägt“, denkt Lina Burghausen nach und diskutiert damit das Potential musikalischer und gesellschaftlicher Bewegungen. „Das Aufkeimen des Raps war ja schon eine Revolution der Popmusik. Das Genre bewegt sich immer im Spannungsfeld zwischen Tradition und dem Wunsch, sich davon abzuheben. Allein dieser Motor macht es dem HipHop leichter, als das in anderen Genres der Fall ist.“ Burghausens Überlegungen geben eine Hoffnung wieder, die in öffentlichen Kontroversen über Grenzüberschreitung im Rap manchmal verloren scheint und die noch unwahrscheinlicher anmutet, wenn man sich vor Augen führt, aus welchem Anlass Burghausen heute eigentlich über weibliches Empowerment in ihrer Lieblingsmusikrichtung spricht.
Schließlich ist die gebürtige Dessauerin aktuell gerade deswegen so ein prominentes Gesicht in der Rap-Szene, weil sie mit „365 Female MCs“ im Grunde ein Trotzprojekt gegen einen massiven Missstand in der Musikwelt aus dem Boden gestampft hat. Der Mob, gegen den Burghausen sich stellt, zeugt von frappierend unnachgiebiger Uneinsichtigkeit. Als Fler auf dem Reeperbahn Festival 2018 einen seiner mittlerweile legendären Talks mit Niko Backspin vor öffentlichem Publikum abhält, kommt irgendwann die Frage auf, warum es so wenig sichtbare Frauen im Rap gebe. Flers Antwort ist erwartungsgemäß nicht gerade eine fundierte Analyse der Situation, sondern vielmehr diffuser Sexismus. Der Rapper spricht deutschen Frauen die Fähigkeit ab, auf die gleiche Weise wie Männer über Sex zu rappen und macht das als Grund dafür aus, dass sie im HipHop-Kosmos nicht bestehen könnten. Burghausen greift sich das Mikrofon und widerspricht Flers Thesen vehement, doch das Interview wird beendet, bevor die Diskussion wirklich in eine Richtung führen kann.
Der wahre Schrecken nimmt seinen Lauf aber erst, als ein Video des Panels auf Youtube gestellt wird und Burghausens kurzer Auftritt von zahlreichen Kommentatoren mit bodenloser Verachtung quittiert wird. Der Tonus braucht keine Argumente, sondern spannt sich über widerwärtig vulgären Sexismus bis hin zur völligen Verneinung jeglicher Validität von Burghausens Meinung. Der Blick in diese anonymen Stimmen ist ein Abbild der völligen Missachtung. Und er wirft die Frage auf, wie sich eigentlich jemals etwas im HipHop ändern soll, wenn schon Burghausens Grundthesen bei Vielen kein ernsthaftes Gehör finden wollen. „Ich nehme durchaus wahr, dass sich in den letzten ein bis zwei Jahren viel getan hat“, schildert Burghausen ihre Sichtweise auf dieses Thema. „Es gibt immer mehr Künstlerinnen, die mit einem gewissen Selbstverständnis auf die Bühne gehen. Es ist normaler geworden, weibliche Artists zu feiern und zu supporten. Auf der anderen Seite führe ich in manchen Kommentarspalten noch immer die selben Debatten wie vor 15 Jahren. Ich kämpfe und kämpfe und habe am Ende doch das Gefühl, bei einem Großteil der Szene nicht anzukommen. HipHop ist in vielerlei Hinsicht dann eben doch sehr traditionell.“
Das Schöne an „365 Female MCs“ ist, dass Burghausen ihren Widerstand nicht durch ebenbürtige Wut kanalisiert, sondern im Gegenteil mit einer positiven Antwort auf das Problem reagiert. Der Name des Projekts erklärt dessen Ansatz ziemlich deutlich: Ein Jahr lang stellt Burghausen für jeden Tag des Jahres eine Rap-Künstlerin aus aller Welt vor. In den monatlichen Blog-Beiträgen widmet sie jeder Rapperin ein Kurzporträt. Mit dabei sind offensichtliche Beispiele wie Haiyti, aber eben auch hierzulande kaum bekannte Künstlerinnen wie die südkoreanische Shinyujinssi. „Ich habe tatsächlich nur sehr oberflächlich gebuddelt“, kommentiert Burghausen ihre Recherche. „Ich hatte ganz am Anfang noch handschriftlich aufgeschrieben, wer mir so einfällt. Bevor ich begonnen hatte, irgendwas zu recherchieren, hatte ich deshalb bereits über 200 Namen.“ Mittlerweile hat Burghausen über 1300 Namen in ihrer Datenbank angesammelt – und dabei immer noch das Gefühl, lange nicht alles entdeckt zu haben. „Die Sprachbarriere war eher ein Problem“, beschreibt sie die Arbeit an ihrem Projekt. „Google Translate kann ich mittlerweile ziemlich gut anwenden, trotzdem hat das Ganze natürlich seine Tücken. Zu einer Rapperin aus Guatemala zu recherchieren war gar nicht so einfach.“
Burghausens Projekt schlägt Wellen. Ziemlich genau ein Jahr nach dem Fler-Aufreger ist Burghausen wieder auf dem Reeperbahn Festival, nimmt dieses Mal aber einen International Music Journalism Award für „365 Female MCs“ entgegen. Der Preis ist nur die Spitze des Eisbergs. Viel entscheidender ist, dass zum Beispiel Bookerinnen und Booker auf die von Burghausen vorgestellten Künstlerinnen aufmerksam werden und Rapperinnen so die nötige Plattform geben. „Am krassesten bewegt hat mich, dass manche Künstlerinnen auf mich zukamen und mir erzählten, dass sie eigentlich aufhören wollten, weil sie mit dem ganzen Zirkus nicht mehr klarkamen. Meine Reihe hat ihnen dann aber gezeigt, dass sie nicht allein sind. In solchen Momenten finde ich es auch heftig, dass es offenbar so notwendig war.“
Besagte Notwendigkeit zeichnete sich im Katalysator von „365 Female MCs“ in besagter Youtube-Kommentarspalte oberflächlich ab, das eigentliche Problem greift aber viel tiefer. Burghausen weiß, wovon sie spricht, schließlich wurde sie bereits in ihrer Kindheit mit HipHop sozialisiert. „Mädchen sind enorm isoliert, wenn sie sich für HipHop interessieren“, erinnert sie sich zurück. „Bevor ich angefangen habe für Rapspot zu schreiben, hatte ich keinerlei Berührungspunkte mit anderen Rap-Fans. Die Mädchen in meiner Klasse haben sich für Indierock interessiert und die Jungs hatten Oversize-Aggro-Berlin-Shirts an – damit konnte ich dann entsprechend auch nichts anfangen.“ Burghausens Jugendgeschichte zeigt, dass dem HipHop die sichtbaren weiblichen Role Models fehlen, die eine Teilhabe von Mädchen und jungen Frauen inklusiver machen würden. „Als ich groß geworden bin, gab es nicht viele gute, weibliche Vorbilder für mich“, reflektiert Burghausen ihre Erfahrungen. „Rapperinnen, die zu dieser Zeit groß waren, waren vor allem Frauen, die sich ausgezogen haben. Es gab Missy Elliot, die ich zwar enorm bewundert habe, die für mich aber keine Identifikationsfläche bot, weil ich eben ganz anders war. Verändert hat sich das für mich erst durch Jean Grae, einer Rapperin aus New York. Da bin ich das erste Mal einer intellektuellen Frau begegnet, die Rap macht, dabei ein bisschen verquer ist, aber sich vor allem als Künstlerin auszeichnet. Bei ihr habe ich mir das erste Mal gedacht, dass ich auch gern so sein würde.“
Dass HipHop und Feminismus ein mindestens schwieriges Verhältnis haben, liegt auch an deutschen HipHop-Aushängeschildern wie Kollegah, die mit ihrer Mentalität und ihren Texten das Leitbild des frauenverachtenden Alpha-Manns sehr laut in die Welt tönen. „Als Teenagerin habe ich die Sachen, die ich gehört habe, kaum hinterfragt“, erklärt Burghausen und beantwortet damit die Frage, wie sie so viel Leidenschaft für ein Genre entwickeln konnte, das inhaltlich in der breiten Masse ein sehr durchwachsenes Image hat. „Als junges Mädchen habe ich viel internationalen Rap gehört – alles, nur nicht aus Deutschland. Ich war großer Fan dieser ganzen Südstaaten-Szene um zum Beispiel Lil John & The Eastside Boyz oder UGK. Wenn ich mir einige Sachen von denen heute nochmal anhöre, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Ich habe neulich mal wieder ‚Slow Motion‘ von Juvenile entdeckt und fand es krass, dass ich das mit 14 Jahren gehört habe. Das Frauenbild, das damals zum Beispiel in Musikvideos propagiert wurde, hat mit Sicherheit auch etwas mit mir gemacht. Die dort gezeigten Verhältnisse sprachen nicht gerade für Empowerment. Aus einer feministischen Perspektive habe ich all das erst viel später reflektiert. Ich bin damals einigen Leuten begegnet, die mein Weltbild hinterfragt haben und war gleichzeitig müde, eine der wenigen sichtbaren Frauen im deutschen HipHop-Kosmos zu sein.“
Dass Burghausen so über ihren Einstieg in ihre Leidenschaft nachdenken muss, ist aber eben kein Problem, das sich auf den Rap im Exklusiven beschränkt. HipHop ist laut und direkt, zeichnet sich oft durch Provokation aus und versteht sich generell als Musikrichtung, in der das Lyrische stark in den Vordergrund tritt. Deswegen ist HipHop immer ein leichtes Angriffsziel, wenn es um das Ankreiden von sexistischen Verhältnissen geht – aber eben noch lange nicht die einzige Problemzone, die in Hinsicht auf Frauen in Gesellschaft und Musik festzumachen ist. „HipHop ist nur die Spitze des Eisbergs“, konstatiert Burghausen. „Unsere ganze Welt ist darauf ausgelegt, dass sie von Männern und für Männer gemacht ist. Wenn ich mich insofern als Frau und Feministin im Rap bewege, dann kämpfe ich den selben Kampf, den ich überall sonst auch kämpfe. Ich sehe da keinen großen Unterschied.“ Dass Musik auch Genre-übergreifend in diesem Problem nicht unschuldig ist, hat etwa Sven Kabelitz‘ Reihe „Die Frau in der Musik“ gezeigt. Darin stellt der Journalist nicht nur ebenso wie Burghausen jeden Tag eine Künstlerin vor, sondern führt auch Interviews mit Protagonistinnen aus den unterschiedlichsten Genres. „Er kommt zu dem Schluss, dass HipHop im Vergleich zum Metal eine inklusive Schäfchenparade ist“, erzählt Burghausen. „Ich weiß aus Erfahrungen von Freundinnen, dass es genau so ekelhaft ist, sich als Frau im Technobereich zu bewegen. Und man muss sich nur einmal die Texte von Schlagern ansehen, um sehr viel darüber zu erfahren, was für Frauenbilder es in der Gesellschaft gibt.“
Dass vor HipHop, Musik und dem Idealbild einer gleichberechtigten Welt noch immer ein langer Weg liegt, muss dabei aber nicht bedeuten, dass alle Bemühungen bisher im totalen Brachland geendet sind. Dass Rap gerade im Mainstream angekommen ist und deswegen zwangsläufig eine breite Masse bedienen muss, tut dieser Musikrichtung in den Augen von Burghausen gut. „Ich denke, dass HipHop Mädchen und jungen Frauen zugänglicher ist, seit er kommerziell erfolgreicher geworden ist“, überlegt sie. „Ich weiß zum Beispiel, dass wegen SXTN viele Frauen angefangen haben zu rappen. Man muss mit denen nicht viel anfangen können, aber in dieser Hinsicht haben sie dem HipHop auf jeden Fall einen großen Dienst erwiesen.“ Auch von anderer Seite reformiert Deutschrap zurzeit viele alte Gepflogenheiten. Dass Kraftklub-Frontmann Felix Kummer mit seinem Solodebüt „Kiox“ gerade ein Album veröffentlicht hat, dessen Intro gleich konstatiert, Rap wieder weich und traurig zu machen, ist dabei nur die neueste Ausformung von HipHop mit anderen Idealen. „Seit Ende der 2000er gibt es Beispiele, wie man erfolgreich Rap machen kann, ohne in diese Sexismus-Schiene zu rutschen“, meint auch Burghausen dazu. „Von Casper und Marteria kann man halten, was man möchte, aber das ist eine Spielart von Rap, die dieses Klischee des starken Alpha-Manns sehr gut durchbricht – und das ist im Mainstream.“
Trotzdem – und das ist wohl die zentrale Botschaft von „365 Female MCs“ – ist das Spannungsfeld Musik und Frau noch lange nicht am Ziel angelangt. Frauen wie Lina Burghausen sorgen mit ihren Einsätzen dabei für wichtige Angriffspunkte. 2017 ruft sie die Aktion „Women With Attitude“ ins Leben und schenkt zwei Rapperinnen ein Promo-Paket. „Ich habe in den ersten drei, vier Jahren meiner Selbstständigkeit nur mit einer einzigen Frau zusammengearbeitet“, berichtet Burghausen von ihren Erfahrungen als Musikpromoterin. „Ich hatte den Eindruck, dass es zwar viele Rapperinnen gibt, die tolle Musik machen, aber aus irgendeinem Grund mehr Schwierigkeiten haben, in professionelle Unterstützung zu investieren, als ihre männlichen Pendants.“
Deswegen liegt Burghausens Wunsch nach Veränderung auch nicht in einem singulären Fakt, sondern in einer Vielzahl an Maßnahmen. „Wir dürfen nicht nur an einer Stellschraube drehen, sondern müssen an allen Punkten ansetzen, an denen Frauen oder Mädchen potenziell in ihrer Karriere vorbeikommen. An jedem dieser Punkte haben sie es schwerer als Männer“, meint Burghausen. „Das geht schon damit los, mit Rap überhaupt in Berührung zu kommen. Mädchen werden ganz anders sozialisiert. Mädchenzeitschriften sprechen eher darüber, mit welchem Augenaufschlag man den Jungs besser gefällt, als wie man einen tighten Sechzehner schreibt. Die Hemmschwelle, sich auf eine Bühne zu stellen, ist für Mädchen viel höher, weil sie ganz anders beurteilt werden und sich viel krasser beweisen müssen. Wie oft ich es als DJ schon erlebt habe, dass irgendein Tontechniker irgendeine Scheiße über mich abgelassen hat – und ich kenne keine Frau, die mir nicht von solchen Erlebnissen erzählt. Es geht damit weiter, dass Gagen anders bezahlt werden oder es bei Plattendeals plötzlich darum geht, wie die Frau aussieht. Aus all diesen Gründen ist es für Frauen wahrscheinlicher, irgendwann das Handtuch zu werfen. Es muss Medienangebote geben, die Künstlerinnen sichtbar machen. Es muss Förderungen geben, es muss bei Veranstaltern eine Awareness geben. Frauen müssen mit der selben Selbstverständlichkeit auf der Bühne stehen können – das ist ja ein Kreislauf. Und auch bei den Fans ist es wichtig, dass sie bewusst mehr Frauen supporten. Jeder Teil der Branche muss an seinen Stellschrauben drehen.“
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.