Sean Long von While She Sleeps im Interview: „Jeder hat seine eigene Wahrheit“ – Die „So What?“-Philosophie.
11.02.2019 | Merten Mederacke
Vor ihrer Show mit Support von Lvndmarks, Trash Boat und Stray From The Path im Skater's Palace in Münster nahm sich Sean Long, seines Zeichens Sechssaiten-Streichler bei While She Sleeps kurz Zeit, um zwei Handvoll Fragen zur anstehenden Platte zu beantworten. Wir sitzen über der Bar und schreien uns über den Soundcheck hinweg an. Doch trotz der widrigen Umstände und der knapp bemessen Zeit – man räumt uns ganze zehn Minuten Zweisamkeit ein – will ich wissen, was es mit „So What?“ auf sich hat. Denn While She Sleeps haben immer etwas zu sagen. Und vor allem hat auch jedes Bandmitglied etwas zu sagen. Musik, Texte und Videoideen entstehen immer gemeinsam und im wechselseitigen Ergänzen. Die Band „lebt“, probt und schreibt in ihrem eigens eingerichteten, sogenannten „Warehouse“ in Sheffield. Dort befindet sich ebenfalls ein eigenes Studio. Eindrücke aus diesem Warehouse finden sich auch im Video zur neuen Single „Haunt Me“.
Doch wenn While She Sleeps immer etwas zu sagen haben, was ist es, was sie mit „So What?“ adressieren wollen? Der Titel klingt ungewohnt rotznasig, fast schon etwas ablehnend höhnisch. Doch Sean Long erklärt: „Die Botschaft ist eine Sammlung verschiedener Dinge. Genau deshalb kann dieses ‚So What?‘ für verschiedene Menschen verschiedene Bedeutungen haben. Meine persönliche Lesart ist, dass sich Dinge immerzu verändern. Wir alle auf dieser Welt haben so unterschiedliche Meinungen, überall sehen Menschen anders aus und letztlich ist mein Richtig und Falsch nicht wie dein Richtig und Falsch.“ Und weiter: „Es ist sehr schwer, herauszufinden, wo und ob in jemandes Meinung oder Glauben objektive Wahrheit liegt. Angenommen, eine Person glaubt an Gott und eine andere nicht, sag mir, wer hat Recht?“
In ihrem Video zu „Haunt Me“ zeigt die Band genau diese Problematik und die Schwierigkeit, „Gut“ und „Schlecht“ eindeutig zu trennen und zu benennen. Dazu erscheint zu Beginn des Clips ein Statement in Textform. Und weil jeder davon überzeugt ist, dass sein persönliches Denken richtig und seine Überzeugungen die einzig wahren sind, geraten Menschen ständig aneinander und es kommt leider nicht nur zu argumentativ-gedanklichen Auseinandersetzungen. Für Long gibt es keine ultimative Wahrheit. Das, was dem am nächsten kommt, setzt sich aus der Kollektion all dessen, was Menschen denken und glauben, oder wovon sie überzeugt sind zusammen. „Wie kann jemandes Meinung falsch sein, wenn es so viele unterschiedliche Meinungen gibt?“, ist eine berechtige Frage, die Long stellt. Und ebenjene Frage bildet das Fundament der „So What?“-Philosophie. „So what, wenn ich das so sehe und so what, wenn du das anders siehst. Jeder hat seine eigene Idee der Welt – so what? Was ist das Schlimme dabei? Was spielt das für eine Rolle?“
„Jeder hat seine eigene Wahrheit. Nimm zum Beispiel Krieg. Da hast du eine Seite und die andere Seite und die Soldaten an beiden Fronten sind bereit für ihre Sache zu sterben. Und beide Seiten denken, sie sterben für die richtige Sache. Wer hat da jetzt Recht?
Doch kann man diese Laissez-faire-Haltung noch aufrecht erhalten, wenn man in der Gegenwart aus dem Fenster guckt und schnell bemerkt, dass nicht nur jeder seine Meinung für die einzig richtige beansprucht, sondern das Recht auf Meinungsfreiheit unlängst missbraucht und zu einem Recht auf Wahrheit ausgedehnt wird? Long bejaht dies. „Ich glaube, dass das genau der Punkt ist.“, sagt er. „Jeder hat seine eigene Wahrheit. Nimm zum Beispiel Krieg. Da hast du eine Seite und die andere Seite und die Soldaten an beiden Fronten sind bereit für ihre Sache zu sterben. Und beide Seiten denken, sie sterben für die richtige Sache. Wer hat da jetzt Recht?“ While She Sleeps brechen mit „So What?“ also in erster Linie eine Lanze für die subjektive Wahrheit. „Auch, wenn es eine ultimative Wahrheit geben sollte – ich glaube dadurch, dass jeder seine eigene Perspektive hat, ist es sehr schwer, irgendwas zu einer endgültigen Wahrheit zu machen.“ Und die „So What?“-Attitüde gilt nicht nur für Geisteshaltungen. Mein Gegenüber wendet diese Denkweise sehr bildhaft auf Alltägliches an. „So what, wenn ich Milliardär bin. Ich habe Millionen Instagram-Follower – so what? Ich bin berühmt – so what? So what, wenn ich es nicht bin!“ Und beim Denken, sowie für lapidare Werte wie Followerzahlen gilt, „lass den ganzen Kleinscheiß los!“
Die bewusst provokative Assoziation die mit dem rotzigen Titel „So What?“ und dem signifikanten großen roten Fragezeichen auf dem Albumcover geweckt wird, bewahrheitet sich also nicht. Wirklich zu While She Sleeps hätte das auch nicht gepasst. „Es soll nicht heißen: ‚So what? Ist mir egal!‘“ resümiert Long. Stattdessen verbirgt sich eine tiefgehende und durchdachte Philosophie des Leben-und-leben-lassens dahinter. „Dabei verhält es sich mit der Platte wie mit den Menschen“, belehrt mich Long weiter. „Don't judge a book by it‘s cover, du musst unter die Oberfläche gucken, um mitzubekommen, was drin steckt. Du musst das Album hören, um das ‚So What?‘ zu verstehen und du musst einen Menschen kennenlernen, um seine Wertvorstellungen und Denkweisen kennenzulernen.“ Und wer While She Sleeps kennt, weiß, wofür sie stehen. Politisch wie musikalisch.
Hinsichtlich letzterem gestaltet sich „So What?“ noch fulminanter als „You Are We“. Denn die Band schafft es auf ihrem vierten Album erneut, ihren seinesgleichen suchenden Sound aufzupeppen. Schon immer einen Stilmix aus den verschiedensten Einflüssen der fünf Mitglieder produzierend, finden sich auch auf „So What?“ neben dominierenden Elementen des Metalcores detailverliebte Elektro-Sounds und beinahe gerappte, sprechgesangliche Parts. In „Silence Speaks“ vom Vorgängeralbum fand sich derartiges auch. Doch in „Back Of My Mind“ erreicht die Band diesbezüglich ein neues Level. Long lacht und sagt: „Ja, aber das sind tatsächlich Guestvocals! Das ist der Sänger von Shvpes, einer Band aus dem Vereinigten Königreich.“ Wirkliche Rap-Einflüsse haben die Briten jedoch nicht. „Klar, ich und Matt hören echt viel verschiedenes Zeug, aber zum Beispiel XXXTentacion, der Rapper, der erschossen wurde, habe ich nie gehört. Das ist nicht so meins. Aber hinterher hat mich das Album echt gepackt und vielleicht ist das einer der Gründe, wieso wir da diesen Part eingebaut haben. Bei Spotify wird das Feature auch genannt werden, nicht aber auf dem Album-Artwork.“ Damit findet sich wie auf dem Vorgängeralbum mit Oli Sykes auch auf „So What?“ ein Feature. So unterstreicht man den Geist der Kollaborationen im Sound nochmals. Besonders, da durch den Gast ein stilfremdes Element hinzugefügt und nicht bloß wie bei Sykes ein bekanntes Mittel ausgelagert wird.
Wir haben die Band absichtlich in den Hintergrund gestellt und die wichtigeren Dinge im Vordergrund auftauchen lassen.
Ein anderer Song, über den man unbedingt sprechen muss, ist der titel- und vermutlich sinnstiftende Track „So What“. „So what if I die young? So what if I live forever?“ und „I wouldn't have to stab you in the back if you'd just turn and face me“ treffen den Kern der Sache sehr genau. Letztere Zeile enthält Anklage wie auch Bitte und entspricht dem, was Long über das Album sagt: „Der Song sollte eigentlich 'Did you know you never know‘ heißen.“ Auch diese Zeile findet sich in dem Song und ergänzt das „So What?“-Bild um die provokative Facette, dass da doch ganz viele Dinge sind, die man nicht weiß. Aber was man nicht weiß, macht einen nicht heiß. Dennoch versuchen While She Sleeps hier, die Neugier zu wecken und den Dialog und die Entdeckerfreude zu fördern. Denn es gibt noch vieles in der Welt, Orte, Menschen, Ideen, die man nicht kennt. „Der Grund, wieso wir den Song nicht vor dem Album veröffentlichen wollten, obwohl er den Nagel auf den Kopf trifft, ist, dass der Text so sinnstiftend ist und wir dem Song eigene Beine zum drauf stehen verleihen wollten. Deshalb heißt der jetzt so wie das Album.“
Doch nicht nur der Track „So What“ trifft ins Schwarze. Neben „Haunt Me“ veröffentlichte die Band auch zur Single „Anti-Social“ ein Video vorab. Und mit erschreckender Präzision werden hier gesellschaftliche, politische und soziale Fehlentwicklungen aufgezeigt. Die Ideen hierzu hatte die ganze Band. Sogar die Klischees des Banddaseins und der cool aussehenden Musikvideos werden hier entromantisiert. So kommt es, dass die Band anfangs das gesamte Bild ausfüllt und zum instrumentalen Intro fleißig springt und das Haupthaar wedelt. Sobald die Kamera jedoch zurückfährt, sieht man, wie kahl die Halle, in der sich alles abspielt eigentlich ist, man sieht die Scheinwerfer, die den Bereich zwischen den Verstärkern ausleuchten, man sieht das Kameragleis und mit dem Einsetzen des Gesangs schwenkt alles auf den Backstage, wo Sean Long noch fleißig geschminkt wird, bevor er sich in einer minimalistischen Szene im Bus zusammenschlagen lässt. Ein Pärchen filmt das Ganze. Später rückt eine Szene in den Vordergrund, in welcher ausschließlich am Smartphone agierenden Grundschülern von einer immerhin menschlichen Lehrperson beigebracht wird, dass 0 Likes einem traurigen Smiley entsprechen. „Wir haben die Band absichtlich in den Hintergrund gestellt und die wichtigeren Dinge im Vordergrund auftauchen lassen“, sagt Long dazu. Wie auch „Haunt Me“ beginnt das Musikvideo zu „Anti-Social“ mit einer hervorgehobenen Textzeile: „Do you want the truth or you wanna assume it?“ Mit „the truth“ ist auch hier wieder die persönliche, subjektive Wahrheit gemeint und hinter der provozierenden Frage, steckt der Hinweis, sich die individuelle Perspektive des anderen doch mal anzuhören. Gleichzeitig kritisiert Sänger Lawrence 'Loz' Taylor aber auch die mangelnde Selbstständigkeit bei der Meinungsbildung und den wirren Wahrheiten, die die Medien vermitteln. Am Ende des Songs singt er „so sick of the same sound syndrome, thank fuck for headphones“. Long versteht unter „same sound syndrome“ das Phänomen, „dass man immer dasselbe hört, wenn man sozial aktiv ist und zum Beispiel mit Freunden ausgeht. Ich habe das Gefühl, dass viele Leute ein paar Worte aus dem Fernsehen aufschnappen und die auf jeder Party wiederholen.“ Und manchmal hat man einfach keine Energie, sich erneut damit auseinanderzusetzen – deshalb der rettende Griff zu den Kopfhörern. „Immerzu dasselbe zu hören ist echt ermüdend!“
Die Videos zu „Anti Social“ und „The Guilty Party“ wurden ausnahmsweise nicht von der Band selbst, sondern von Tom Welsh geschnitten. Das dritte zu „Haunt Me“ hat jedoch Bassist Aaron McKenzie selbst editiert. While She Sleeps versuchen immer so viel wie möglich in Eigenregie zu bewerkstelligen. In bereits erwähntem Statement im Intro des Videos zu „Haunt Me“ lädt die Band den Zuschauer ein, der „So What?“-Philosophie beizutreten. Nun ist die Gründung einer eigenen Philosophie aber ein durchaus großes Vorhaben. Long erläutert dass 'Philosophie' ein sehr weiter Begriff ist und man einer Philosophie ja auch nicht wirklich beitreten muss. „Es geht uns eher darum, anzuregen, Dinge mal auf diese Weise zu betrachten. Es ist also kein ernsthafter Versuch, eine Philosophie zu begründen und Leute zu missionieren. Aber es klingt gut, denn eine Philosophie ist nichts, was man von einer Band erwartet.“, ergänzt er lachend.
Doch Long wird direkt wieder ernst und ergänzt, dass „es natürlich wichtig ist, wie man Sachen sagt, wie man Musik und Melodien und all das schreibt. Aber für mich persönlich ist viel wichtiger, wie man sich fühlt. Und das kann niemals einfach auf ein paar Worte runtergebrochen werden, auf die man einen dann festnagelt. Wenn dich jemand fragt, dich zu erklären, klingt man manchmal einfach idiotisch, weil du das gar nicht kannst, weil du nicht die richtigen Worte dazu findest oder nicht zum Kern der Sache vordringen kannst.“ Das gilt auch, wenn Leute ihn fragen, wie er all diese Songs schreibt. „Ich weiß nicht im engen Sinne, wie ich das anstelle. Das passiert einfach. Das ist ähnlich, wie wenn man mich fragen würde, wie ich atme, wie ich sitze, all so Kleinigkeiten.“
Der Gebrauch einer sehr häufig gestellten Frage stößt Long jedoch besonders bitter auf. „Die Frage 'Wie geht’s dir?‘ wird immerzu gefragt und ich beantworte sie immer ehrlich. Dann sage ich halt ganz direkt 'Es geht mir echt scheiße' und Leute reagieren dann mit einem 'Oh ah hmm.' und wissen nicht, was sie sagen sollen. Das ist auch ein kleiner Aspekt des Anti-Social-Gedankens. Du musst einen Akt vollziehen, um gesellschaftlich akzeptierbar zu sein.“ Dieser Akt bestünde hier in der unehrlichen aber leichter verdaulichen Antwort 'Geht mir gut, danke. Und dir?' oder dergleichen. „Manchmal habe ich einfach nicht die Kraft zu diesem Akt und dann würde keiner mit mir reden, weil ich eigentlich recht still bin“, setzt Long fort.
„So What?“ ist also ein Album, welches auffordert, sich mit alternativen Gedanken, Ideen oder Weltvorstellungen auseinanderzusetzen. Gleichzeitig stößt es jedoch auch auf, sich selbst überhaupt ein eigenes Bild zu machen und nicht wahllos zu kopieren, was andere einem präsentieren. Die „So What?“-Philosophie erweist sich als durchdacht und tiefgründig, vielseitig und beheimatet im Kielwasser des oft zitierten Ausrufs „Leben und leben lassen.“
Merten Mederacke
Merten hat Soziologie, Politik und Philosophie studiert. Seit Jahren treibt er sich auf Konzerten und Festivals herum und fröhnt allem, was Gitarre, Rotz und Kreativität so ergießen. Bei Album der Woche versucht er stets, den Funken seiner Passion auf jeden Lesenden überspringen zu lassen.