Wie man Metal spielt, wenn er verboten ist: Im Interview mit Creative Waste
05.03.2020 | Jakob Uhlig
Als Creative-Waste-Frontmann Fawaz Al-Shawaf am heutigen Nachmittag aus Saudi-Arabien anruft, ist er eigentlich sehr beschäftigt. Immer wieder muss er das Gespräch kurz unterbrechen, weil er unterwegs ist und nebenbei andere Sachen erledigt. „Ich habe eine Menge zu tun“, fügt er zwischendurch entschuldigend hinzu. „Ich bin gerade auf dem Weg, um die Mixe für unser kommendes Album anzuhören. Wir wollen die Platte noch in diesem Jahr veröffentlichen.“ Dass ein neuer Release bevorsteht, ist für die Grindcore-Band nicht unbedingt ein alltäglicher Prozess. Das bisher letzte Creative-Waste-Album „Slaves To Conformity“ stammt schließlich aus dem Jahr 2012 und liegt damit schon acht Jahre zurück. Wohlmöglich ist die langjährige Release-Flaute auch ein Zeugnis der kulturellen Umstände, in denen das Trio seine Musik betreiben muss – denn eine Metal-Band in Saudi-Arabien zu sein, war viele Jahre lang ein durchaus gefährliches Unterfangen.
Generell hat das Kulturleben in Saudi-Arabien einen schwierigen Stand. Das absolutistische Regime folgt den Prämissen des salafistischen Islams und unterband seit langer Zeit jedwede Form öffentlicher künstlerischer Aktivität. Kinos sind verboten, regimekritische oder nicht den Normen entsprechende Inhalte werden aus Fernsehen und Internet getilgt, Konzerte fast jeder Art werden in Saudi-Arabien unterbunden. „Musik war bei uns nie frei“, teilt Fawaz seine Erfahrungen. „Obwohl ein Großteil der Menschen Musik gehört hat, hat es die Obrigkeit einem nicht einfach gemacht, das wirklich auszuleben. Es gibt dabei allerdings auch eine Menge Widersprüche. Musiker mit viel Geld konnten zum Beispiel bisweilen trotzdem Shows spielen – aber wir sprechen hier von Major Labels, die immer eine gewisse Mainstream-Masse bedienen. Aber Menschen wie ich, die sich mit einer alternativen Kultur identifizieren, haben immer am Rand gestanden.“
Seit einigen Jahren beginnen sich die Gesetze in Saudi-Arabien zu lockern. Im Januar 2015 gibt es in der absoluten Monarchie einen Herrschaftswechsel. Salman ibn Abd al-Aziz besteigt den Thron. Er ist der Halbbruder des bisherigen Königs Abdullah, der kurz davor verstarb. Unter der Führung Salmans beginnen sich einige Zahnräder in Bewegung zu setzen: Seit 2018 dürfen Frauen Auto fahren, im selben Jahr eröffnet das erste kommerzielle Kino im Land und auch öffentlichen Konzerten werden allmählich Wege bereitet. Der Sinneswandel entsteht vor allem aus wirtschaftlichen Gründen und internationalem Druck, für Kunstschaffende wie Fawaz bedeutet die Kehrtwende trotzdem eine ganze Menge. „Ich fühle mich wie in einer anderen Dimension“, sagt er und wirkt über diesen Umstand noch immer ein wenig ungläubig. „Ich lebe immer noch im selben Land, aber es fühlt sich kaum noch so an. Wir sind noch lange nicht am Ziel, aber wir kommen näher. Von so etwas hatte ich noch nicht einmal zu träumen gewagt. Metal war immer außen vor, obwohl Saudi-Arabien größer ist als die anderen Länder der Golfstaaten und über eine viel diversere Gesellschaft verfügt.“
Die grundsätzliche Situation für einen kulturellen Austausch verschiedenster Art wäre eigentlich gegeben – aber die Restriktion weniger Mächtiger verhinderte jahrzehntelang eine öffentliche, kreative Entwicklung. „Bei uns haben auch immer viele Menschen aus dem Ausland gearbeitet“, erklärt Fawaz weiter. „Egal, wie hart die Regierung versucht hat, die ‚Kultur zu bewahren‘, Saudi-Arabien war immer eine Art Schmelztiegel. Verglichen mit den anderen Golfstaaten gibt es wenig Länder, die so viel von populärer Kultur beeinflusst sind. In Katar zum Beispiel dominieren quasi nur Menschen ab der gehobenen Mittelschicht. Diese Leute werden deswegen auch nur mit einer gewissen Art von Menschen sozialisiert. Ich kann mit diesen Leuten kaum reden, wir haben einfach nichts gemeinsam.“
Die Diskrepanz zwischen einer unter der Oberfläche lauernden kulturellen Vielfalt und deren Unterbindung durch die Regierung bekommt Fawaz vor allem zu spüren, als er selbst beginnt, sich für alternative Kultur zu interessieren. „Es begann alles 2001“, erklärt er seine eigene Sozialisation mit harter Gitarrenmusik. „Durch den Microsoft Chat habe ich einen Typen kennengelernt, der von Bands wie Sonic Youth, Nirvana oder Nada Surf begeistert war. Er mochte auch eher ungewöhnliche Acts wie The Jesus Lizard. Ich kam außerdem gerade aus den USA und habe dort Bands wie Korn oder die Deftones kennengelernt. Für mich war alles, was mit Rock und Metal zu tun hatte, unglaublich. Ich habe alles aufgesogen, was ich bekommen konnte. Dadurch lernte ich neue Leute kennen und es begann, eine Gemeinschaft zu wachsen.“
Über das Internet treffen viele Gleichgesinnte aufeinander, in einem Online-Forum bildet sich eine Szene. Bereits 2002 gründet Fawaz so mit zwei Mitstreitern Creative Waste. Die Band spielt Grindcore und organisiert entgegen aller Restriktionen auch Shows. Sein erstes öffentliches Konzert spielt das Trio 2005. Weil das offiziell nicht erlaubt ist, versuchen Creative Waste, die Machthaber möglichst wenig zu provozieren und vermeiden jeden Gesetzesbruch. Frauen und Männer sind räumlich getrennt. Die Band verlangt keinen Eintritt, wodurch die Veranstaltung keinen kommerziellen Charakter bekommt. Der Versuch geht gut und die Band veranstaltet von nun an regelmäßig Shows im Untergrund, die einen festen Publikumskreis anlocken.
Creative Waste sind in dieser Zeit maßgeblich dafür mitverantwortlich, dass die Metal-Szene in Saudi-Arabien trotz aller Verbote wächst. Schon 2006 zieht sich die Band aus dem organisatorischen Teil der Shows zurück, weil die Sache immer größer wird. Neue Akteure veranstalten Konzerte, bei denen Creative Waste regelmäßig zu Gast sind. Doch die steigenden Dimensionen der Shows sorgen auch für dramatische Entwicklungen. „Diese Menschen veranstalteten Konzerte nicht so wie wir“, erinnert sich Fawaz zurück. „Männer und Frauen durften sich im selben Raum aufhalten, sie nahmen Eintritt. Wir wussten, dass das ein schlechtes Zeichen war.“ Immer wieder hört Fawaz in dieser Zeit von kleineren Rückschlägen und einer erhöhten Aufmerksamkeit durch das Kulturministerium, zur Katastrophe kommt es aber erst im Jahr 2009. „Wir waren zu einer Show eingeladen und ich sagte, dass wir die nicht spielen würden, weil ich ahnte, dass der Abend in einem Desaster enden würde. Ich sollte recht behalten. Die zwei Organisatoren wurden festgenommen. Der eine war kein saudischer Bürger, er wurde zurück in sein Heimatland abgeschoben. Der andere wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, er kam nach acht Monaten wieder frei. Zehn Jahre lang hat sich danach niemand mehr getraut, eine Rock- oder Metal-Show zu veranstalten.“
Fawaz spricht davon, dass die Szene an diesem Tag gestorben sei. Creative Waste hören trotzdem nicht auf und suchen fortan Auftrittsmöglichkeiten im Ausland. In den USA stößt ein Konzertveranstalter auf die Band und lädt sie 2010 zu einer Show in New York ein. Von dort dreht sich das Rad weiter: 2011 spielt die Band auf dem Maryland Deathfest ihre erste Festival-Show, es folgen weitere Konzerte in den USA, Mexiko und auch eine Europa-Tour im Jahr 2017. Doch in ihrem Heimatland ist die Band in dieser Zeit kaum aktiv – bis die kulturellen Umschwünge der letzten Jahre dafür sorgen, dass sich Creative Waste wieder an die Oberfläche trauen. „Wir haben 2019 zwei Shows gespielt“, berichtet Fawaz aus einer Zeit neuen Muts. „Die erste war ein Konzert wie früher – inoffiziell, vor all den Leuten, die aus der damaligen Szene noch übrig sind. Dann wurden wir aber von den Betreibern von einer Location gefragt, ob wir bei ihnen ein Konzert spielen wollen.“
Trotz der zunehmenden Lockerung der Gesetze ist die Angst aus vergangenen Zeiten zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht verschwunden. Das Trauma von 2009 hängt nach und viele Beteiligte sind skeptisch, ob tatsächlich alles ohne Restriktionen so laufen könnte. Denn immerhin steht mit dieser Anfrage im Raum, die allererste offizielle Metal-Show in Saudi-Arabien zu spielen. „Ich fand die Idee ziemlich verrückt“, räumt auch Fawaz ein. „Aber dann dachte ich: Wann haben wir je etwas Vernünftiges getan? Wir sind eine Grindcore-Band in Saudi-Arabien. Also haben wir es durchgezogen und es hat sich gelohnt.“
Die Stimmung vor der Show ist zwiegespalten: Zweifel an der Durchführbarkeit des Unterfangens machen sich nicht nur in der Band, sondern auch bei anderen breit. „Eine Menge Leute hatten immer noch Angst“, erzählt Fawaz. „Sie waren nicht dort, obwohl sie die Möglichkeit dazu hatten. Trotzdem waren auch eine Menge Leute da, die ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Das war schon ein besonderer Moment. Es war ein anderes Gefühl als bei unseren bisherigen Shows. Männer und Frauen durften ohne Probleme im selben Raum sein. Meine Mutter konnte uns endlich das erste Mal sehen. Jeder konnte dabei sein. Es fühlte sich endlich so an, als ob das, was wir seit Jahren machten, so weit legitimiert geworden war, wie es im Augenblick möglich ist.“
Trotz diesem einschneidenden Erlebnis ist das kulturelle Leben in Saudi-Arabien weiterhin nicht perfekt – jahrzehntelang gültige Ordnungsprinzipien verschwinden schließlich nicht einfach so. Wer in dem Land Konzerte spielen will, muss sich weiterhin eine Genehmigung einholen – das ist möglich, aber bisher ein recht undefiniertes Unterfangen. „In den zuständigen Behörden arbeiten Menschen aus der jungen und aus der alten Generation“, erklärt Fawaz den momentanen politischen Stand des Landes. „Da gibt es naturgemäß Konflikte. Es ist nicht immer einfach, alle zufriedenzustellen. Ich habe mich vor ein paar Wochen mit Leuten getroffen, die für dieses Ministerium tätig sind. Sie haben gesagt, dass sie offene Veranstaltungsorte wollen, aber dass das noch eine Weile dauern wird. Das ist ein juristischer Kampf – ungefähr wie bei den Kinos, die vor einiger Zeit hier eröffnet wurden.“ So wird die kulturelle Entwicklung in Saudi-Arabien noch viel Arbeit und Durchhaltevermögen brauchen. Doch das Beispiel Creative Waste belegt schon jetzt zweierlei. Erstens: Außerhalb der westlichen Kulturblase schlummern viel zu viele spannende Bands, die einfach keine Bühne bekommen. Und zweitens: Wie viel Kraft muss Musik haben, dass Menschen für sie sogar bereit sind, ihre Sicherheit aufs Spiel zu setzen?
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.