Joes Nagelstudio: "Everything" - gehasste Siegeshymne
05.06.2022 | Johannes Kley
Es ist 2013. Das Album „Hesitation Marks“ ist angekündigt und in einem Radiointerview stellt Reznor einen Song vor. Es ist verwirrend, denn was da aus den Kopfhörern kommt, klingt nicht so, wie es erwartet wurde. „Everything“ klingt erschreckend fröhlich, und genau das hat kein Fan erwartet.
Ich weiß noch, wie damals die Fan-Gruppen bei Facebook durchdrehten und das Nine Inch Nails-Forum mit Memes geflutet wurde. Bei YouTube gab es unzählige Videos bei denen Einhörner, Regenbögen und ähnliche Dinge zu sehen waren, einfach weil es augenscheinlich zur fröhlichen Stimmung des Songs passt. Doch ist „Everything“ wirklich so fröhlich, wie er klingt?
Musikalisch ist es definitiv einer der Songs der Band, der am wenigsten düster, traurig oder verstörend klingt. Ohne den Text ist der Song einfach ein schneller elektronischer Rocksong, der mit treibenden Drums und Bass und einer leicht verzerrten Gitarre recht tanzbar ist. Doch betrachten wir den Text, zeigt sich ein etwas anderes Bild. Letztlich singt Reznor eigentlich nur darüber, dass er bisher Alles überlebt hat. Was dieses „Everything“ nun genau ist, wird nie genau benannt, aber vermutlich handelt es sich einfach um seine Vergangenheit mit Drogen, Alkohol und psychischer Erkrankung. Später im Text singt er von einem Ding (oder Etwas), welches in ihm lebt und wieder erwachen wird. Reznor sprach in der Vergangenheit teils sehr offen über seine Erkrankung und wie glücklich er ist, dass er mental nicht mehr da ist, wo er in den 90ern war. Und genau das verarbeitet er eben in „Everything“. Letztlich ist „Everything“ eine Siegeshymne über sich selbst. Bei einem Konzert erzählte er vor einigen Jahren, dass er eigentlich geplant hatte, sich umzubringen. Das hat er, offensichtlich, nicht getan und besingt diesen Sieg eben in diesem Song.
In der Zeitung „The Sun“ sagte Reznor dazu ganz einfach: „At first listen, it might seem to be in praise of life, but it's supposed to come off as an arrogant, "Fuck you. I've survived!" It also gets less triumphant and more reflective and melancholic towards the end.“ und fasst es damit eigentlich echt gut zusammen.
Ich glaube auch nicht, dass die meisten den Song hassen, sondern „Everything“ einfach noch immer so verwirrend ist, dass es eben perfektes Meme-Material ist. Es ist einfach witzig, sich darüber lustig zu machen und auch ich habe schon einige Shitposts darüber gemacht. Dennoch habe ich vor Jahren die Tabs dazu gesucht und will den immer noch im Proberaum spielen. Leider bin ich da der einzige. Ich habe mir auch die Promo-CD bei Discogs gekauft, einfach weil ich den Song echt mag und es leider nie eine Single davon gab.
Vor einiger Zeit tauchte dann plötzlich ein Musikvideo auf. Eigentlich war es länger da, aber niemand hatte auf der Seite des Regisseur-Teams nachgeschaut. Dort lagen die Snippets einfach öffentlich zugänglich. Reznor hatte dazu gesagt, dass das Video nicht so gut wurde, wie es sich alle erhofft hatten und so wurde es nie veröffentlicht, aber nun gibt es wenigstens ein paar kleine Ausschnitte.
„Hesitation Marks“ ist ein Album, zu welchem ich ein sehr ambivalentes Verhältnis habe. Einerseits habe ich durch dieses Album meine Lebensgefährtin kennengelernt und somit die letzten acht Jahre meines Lebens beeinflusst, andererseits ist es musikalisch nicht mein Favorit, sondern eher in der unteren Hälfte angesiedelt. Aber „Everything“ ist eigentlich immer auf meinem MP3-Player.
Ich verstehe, dass vielen der Song ein wenig missfällt, eben weil er so fröhlich klingt und wenn sich nicht mit dem Text auseinandergesetzt wird, passt der Track nicht so wirklich in die Diskographie rein. Doch eigentlich ist dieser Track die logische Konsequenz aus der Bandgeschichte bzw. des Lebens von Reznor und vielleicht gerade weil ich die depressiven Songs so gut verstehen kann und, wie wohl fast jeder Mensch, einige dunkle Tage in meinem Leben hatte, fühle ich "Everything" so, wie er gemeint ist. Reznor ist da lebend rausgekommen, also kann ich das wohl auch.
Johannes Kley
Kolumnist und Konzertmuffel Joe ist Gesundheits- und Krankenpfleger in Bochum, liebt seinen Hund, liest leidenschaftlich gern, gibt ungern Bewertungen für Alben ab, ist Musikliebhaber, irgendwo zwischen (emotional) Hardcore, Vaporwave, Goth-Pop und Nine Inch Nails und versorgt euch unregelmäßig mit geistigen Ergüssen aus seiner Gedanken- und Gefühlswelt.