The Kids Aren't Alright - ein Emokid erzählt
01.12.2021 | Johannes Kley
Triggerwarnung: in diesem Text werden Selbstverletzung und Suizid erwähnt
Als Hawthorne Heights ihr Erfolgsalbum "The Silence In Black And White" veröffentlichten, war ich 15 Jahre alt und somit im perfekten Alter, um mir die Haare zu glätten und gegen meine Eltern zu rebellieren. Letzteres habe ich davor schon getan, als ich mich in die Punkbewegung verliebt hatte, die Haare habe ich mir nie geglättet. Das Album habe ich erst Jahre später gehört, aber es war der Teil einer neuen Welle von Emobands und einer Zeit, die ich nicht missen möchte. Ich erzähle euch also ein wenig, wie es damals, aus meiner Sicht, war, was daraus geworden ist und was sich verändert hat. Keine Fakten, nur meine Gedanken und Beobachtungen.
Als leidenschaftlicher HIM-Fan, war ich natürlich prädestiniert ein Emo zu werden. Ich liebte Songs über unerfüllte Liebe, Herzschmerz, Tod und gemeinsamen Suizid. Ich war ein typischer Jugendlicher und fühlte mich nirgends so richtig zugehörig und so waren die latent depressiven Emokids eine Familie, zu der ich gehören wollte.
Natürlich dauerte es etwas bis die große Emowelle losbrach. Interessant war damals die Tatsache, dass viele meiner Freunde, die vorher Revolverheld oder Rihanna gehört haben, auch zum Emocore fanden und mein Freundeskreis zwischenzeitlich sehr viel schwarzgekleidete Menschen enthielt. Mädchen, die vorher noch als Tussi verschrieen waren, kamen plötzlich mit blauen Flecken aus dem Mosh Pit vom Silverstein-Konzert und auch viele Jungs trugen die Haare vor den Augen. Es war plötzlich auch völlig okay darüber zu reden, wenn es Leben scheiße lief. Ich weiß nicht mehr auf wie vielen Partys Leute plötzlich heulten. Emocore hatte es legitim gemacht, sich schlecht zu fühlen und dies auch rauszulassen. Klar, die Stimmung war dann temporär mal etwas schlechter, aber wir alle wissen, wie wichtig es ist, psychische Probleme nicht zu ignorieren. Natürlich war nicht jede Person damals depressiv, aber wir alle waren in der Pubertät und da fühlt sich jedes gebrochene Herz an, wie ein Weltuntergang. Hat bei mir nie aufgehört.
Viele behaupten, dass alle Emos sich geritzt haben und ich will nicht in Frage stellen, dass selbstverletzendes Verhalten zur Ästhetik des Genres gehörte. Ja, auch ich habe mich geritzt, aber auch schon bevor ich Emocore kannte. Das ist ähnlich wie bei Rapmusik. Eltern behaupten ja gerne, dass ihr Kind ein asozialer Sexist wurde, weil er zu oft 187 Straßenbande gehört hat. Ist das so einfach? Ich kenne viele, die Gzuz hören, seine Musik aber eigentlich nur dafür feiern, wie asozial er eben rüberkommt. Die hören das ironisch, wie gut auch immer das ist. Wenn dein Kind Frauen verachtet und auf sinnlose Gewalt steht ist vermutlich nicht Gzuz (oder irgendein anderer aus diesem Genre) Schuld sondern die Erziehung, das gesamte soziale Umfeld und der IQ. Ähnlich wie bei der völlig dämlichen Killerspiel-Debatte und genauso ist es beim Emocore. Die, die sich davor schon verletzt haben, die immer ein wenig auf der graueren Seite des Lebens existierten, fanden die Musik eben ansprechend. Vielleicht gab es ein paar Menschen, die unbedingt dazugehören wollten und es nur darum taten, aber die Zahl derer dürfte, meiner Meinung nach, eher gering sein.
Wie erwähnt, kamen die Emos aus allen Kreisen und wer zuvor Punk, Goth oder eben Rap-Fan war, brachte natürlich was mit. Der Style ist genau deshalb so gehasst, weil sich aus allen Ecken etwas genommen wurde und sich die alten Grüppchen angepisst fühlten. Was aus Punk und Grufti entnommen wurde, ist offensichtlich, aber wir dürfen auch nicht die Bollos vergessen, also die, die beispielsweise Baggies trugen, so wie ich, weil Skinny Jeans einfach unbequem sind. Und da ist mir mal was ausgefallen. Die ganzen Grüppchen sind weg. Als ich noch zur Schule ging, gab es die "Normalen" die halt einfach da waren, aber es gab eben auch massig Punks, Goths, Hip Hopper, Metaller und dann eben irgendwann die Emos. Aber was kam nach Emos? Mein Bruder ist 19 Jahre alt und ich hab mich mal mit ihm unterhalten. Die heutige Jugend hat diese Gruppen nicht mehr wirklich. Laut ihm laufen alle (O-Ton) "normal rum", abgesehen von ein paar wenigen Aufnahmen. Ich weiß nicht, ob es wirklich so ist, aber gefühlt war Emo die letzte Jugendsubkultur, die es gab. Klar hören die Jugendlichen heute teils noch Metal oder Punk, aber es so offen nach außen zu tragen, wie es vor 15 Jahren noch der Fall war, ist irgendwie ausgestorben, außer bei E-Girls und E-Boys aus TikTok, die ja auch nur aussehen, wie eine Mischung aus Cybergoths und Emos. Hat Emo das Aussterben verursacht oder endete diese Zeit einfach mit einem Knall und Emo war eben zufällig da? Wer weiß.
Was passierte mir all den Emos? Nun, die meisten sind der Sache irgendwann entwachsen. Für viele war es aber eben ein Eintrittstor in die Welt des Hardcore, Post-Hardcore oder Melodic Hardcore. All diese Genre hätten ohne die vergleichsweise sanfte Emocore-Musik wohl nie so viele neue Bands erhalten, denn so wirklich zugänglich sind sie ja nicht. Aber wer Silverstein hört, der schaut natürlich weiter und findet dann eben auch mehr Bands, damals noch auf MySpace, und so kam die ein oder andere Person über unzählige Profile dann zu Bring Me The Horizon und entdeckte Deathcore für sich. Die Menschen, und vor allem die harten "Ich höre nur NYHC von 1984"-Hardcore-Typen, dürfen Emo scheiße finden, aber die Gatekeeper sorgen garantiert nicht für Nachwuchs einer Szene. Sharing Is Caring! Emocore ist wie Korn oder System Of A Down. Es war eine Zwischenstation für viele, bis sie ihr richtiges Genre gefunden haben. Ernsthaft, kennt jemand Korn-Fans, die älter als 16 sind? Das ist eine Einstiegsband und Emo war ein Einstiegsgenre. Ohne Emocore hätte ich nie zu Bands wie Casey oder Counterparts finden können und vielleicht hätte es viele dieser Bands auch gar nicht gegeben, wenn die damals nicht im Hot Topic ein My Chemical Romance-Shirt gekauft hätten. Damals kam ich durch andere zu Underoath und auch wenn mich ihre Bibelstunden- und Anti-Abtreibungsscheiße (hatte Konzertticktes, als ich erfahren habe, dass die sich aktiv gegen Abtreibungen engagieren. Ich bin dann nie hingegangen) echt angekotzt hat, war es mein Einstieg in die Musik, die ich heute höre.
Auch sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass Emocore ein Genre war, dass, ähnlich wie Gruftis, sehr viele Frauen angezogen hat, auch wenn der größte Teil der Bands männlich war, die dementsprechend auch in Gefilde wie Hard- oder Deathcore vordrangen. Durch toxisch maskulinen Metal wäre das vermutlich nicht passiert. Nur so als Gedanke im Raum.
Viele Bands schwammen damals ja auch ungewollt auf der Emo-Welle mit. Bullet For My Valentine wollten damals als Metal-Band wahrgenommen werden, aber mit Songs wie "Tears Don't Fall" haben die nicht nur bei mir einen Emo-Nerv getroffen. Finanziell dürfte es ihnen nicht geschadet haben. Auch habe ich damals Capser kennengelernt, der mit "Rasierklingenliebe" der erste wahre Emo-Rapper, weit vor Lil Peep und Co., war. Der Song bette ich nicht ein, da er recht heftig ist, aber es sind seine Ursprünge und bis heute freue ich mich immer über die depressiveren Songs von ihm. Heutzutage gibt es zwar noch Emobands, wie beispielsweise Tiny Moving Parts, aber die Magie von damals ist ein wenig verflogen. Klar, ich bin älter geworden, aber das pathetische Leiden und die klare optische Abgrenzung waren essenziell. Nicht falsch verstehen, ich hab Vinyl und CDs von der Band, aber mir fehlen die androgynen Sänger mit Frisuren, die länger brauchten als mein Arbeitstag, die darüber singen und schreien, dass sie sich umbringen, wenn die Liebe ihres Lebens Schluss macht. Das wird nicht mehr wiederkommen. Und das muss es auch nicht. Es hielt nicht lange an, aber es war intensiv und vor allem hat es einen tiefen Eindruck hinterlassen. Depressionen und ähnliche Themen sind aus den kleinen Genres wie Goth enthoben und in die Popkultur eingezogen. Viele Musiker und Musikerinnen singen offen über Ängste, Verzweiflung und da dürfte die 2000er-Emowelle einen Anteil daran haben. Wie bereits erwähnt wurde es normal über so etwas zu sprechen und auch wenn wir noch einen weiten Weg vor uns haben, sind die ersten Schritte getan. Emo hat es nicht begründet, aber es war hilfreich, ein Genre zu haben, dass viele hören. Reden wir weiter darüber.
Ich bin immer noch Joe von Album der Woche. Ich bau überall, wirklich ÜBERALL, Nine Inch Nails ein. Hier natürlich auch. Denn ohne Emo, wäre ich vielleicht nie Fan der Band geworden. 2005 hat Reznor nach längerer Pause "With Teeth" veröffentlicht und als jemand, der sich nie so wirklich zwischen Goth, Punk und Emo entscheiden konnte, habe ich ab und an die deutsche Grufti-Bravo "Sonic Seducer" gelesen. Die haben dann darüber berichtet und Reznor hatte einen Emo-Haarschnitt auf den Promofotos! Also hab ich reingehört.
Ich war überrascht, weil es nicht so klang, wie Reznor auf den Fotos aussah, aber wie ihr auf dem Bild ganz oben im Text sehen könnt, hatte ich auch als Emo schon NIN-Patches auf dem Rucksack. Und das hat sich bis heute nicht geändert. So sehr ich Nine Inch Nails liebe, fühle ich mich im Herzen immer noch mit den Emokids von damals verbunden. Die Frisur ist meist noch die selbe von damals (mittlerweile ist es ein Undercut, weil sich damit einfacher ein Zopf für die Arbeit machen lässt, aber ich hab immer noch gern Haare vor den Augen) und auch auf dem Rucksack sind immer Nine Inch Nails-Aufnäher. Weiterentwicklung ist wohl nicht so mein Ding. Anders als bei den meisten von damals. Aber das ist okay. Es war eine Jugendbewegung und die Flamme brannte hoch und schnell (ab). Es gab Antibewegungen, Jagden auf Emos in Russland und Mexiko, homophobe Beleidigungen, einfach weil Emos sich anders kleideten und auch sonst war es nicht immer einfach für viele. Aber am Ende war es doch schön. Ich will die Zeit nicht missen. Stay Sad.
PS: hier noch das Interview mit Shane Told von Silvertsein, dass ich führen durfte.
Johannes Kley
Kolumnist und Konzertmuffel Joe ist Gesundheits- und Krankenpfleger in Bochum, liebt seinen Hund, liest leidenschaftlich gern, gibt ungern Bewertungen für Alben ab, ist Musikliebhaber, irgendwo zwischen (emotional) Hardcore, Vaporwave, Goth-Pop und Nine Inch Nails und versorgt euch unregelmäßig mit geistigen Ergüssen aus seiner Gedanken- und Gefühlswelt.