Streitfall: Ist Musik-Streaming eine gute Sache?
15.10.2020 | Jakob Uhlig
Zuallererst das Wichtigste: Ich mag Streaming nicht und fürchte, dass die Musikwelt sich durch dieses Phänomen eher in eine negative Richtung bewegen wird. Dazu allerdings gleich das Eingeständnis: Ich bin 23 Jahre alt und befinde mich aktuell scheinbar in meiner ersten Alterskrise - obwohl ich wahrscheinlich einer Generation nachsinniere, die ich selbst nie so richtig erlebt habe. Zwar habe ich in meiner Kindheit durchaus die ein oder andere CD besessen, meine ersten aktiven Musikkäufe habe ich aber via iTunes-Download getätigt. Das war zu dieser Zeit der neueste Scheiß und war ja auch praktisch: Anstatt immer ein ganzes Album kaufen zu müssen, konnte man sich einfach die Lieblingssongs rauspicken. Sparte Geld, war komfortabel - prima! Mit zunehmendem Alter und breiterer musikalischer Erfahrung realisiert man dann aber irgendwann, dass "die Lieblingssongs" de facto gar nicht solche sind, sondern schlicht die einzigen, die man überhaupt kennt. Erst wer sich traut Alben zu kaufen, kann sich der Herausforderung stellen, große Zusammenhänge zu erkennen und Neues kennenzulernen. Für den Casual-Konsumierenden war der Musikdownload wahrscheinlich ein nettes Modell, für echte Liebhaber*Innen ist das aber schlicht die Variante der bequemen Berieselung. Ja, Streaming macht es mittlerweile wieder einfacher, ganze Platten zu hören - aber weil das trotzdem nicht so viele machen, lenken inzwischen die Musikschaffenden selbst ein und tendieren eher zur Single als zum umfänglichen Konzeptwerk. Das ist umso bitterer, weil es der Sprung ins Digitale ja in der Theorie endlich möglich machen würde, Platten von unendlichem Umfang zu schreiben - stattdessen werden wir mit Kleinvieh abgespeist. Musikhören wird so zum schnellen Snack in der Mittagspause. Und ich fürchte, mit zunehmender Dominanz des Streamings wird das alles immer schlimmer werden.
Auch wenn ich vier Jahre jünger bin als Jakob (und es liegt in Punkto Musikerfahrung mindestens eine ganze Generation zwischen uns), auch ich bin mit den iTunes Downloads aufgewachsen. Von den damaligen Musikstreaming-Möglichkeiten (also YouTube) habe ich dank beschränktem Internetzugang nie viel gehalten, für mich musste es Musik immer offline und immer „to go“ geben – was auch der Grund ist, warum ich heute eingefleischte Spotify-Premium Nutzerin bin. Klar hatte ich früher CDs, meine Lieblingsalben kaufe ich mir auch immer noch als physische Form, aber es war zugegebenermaßen ziemlich unpraktisch, die CDs in die iTunes-Mediathek zu importieren und dann auf das mobile Endgerät zu laden. Dazu kommt, dass die meist 1,29€ (!) für einen (!) Song im iTunes-Store meinen Musikgeschmack in diesem Alter maßgeblich geprägt haben. Natürlich habe ich mir auch immer nur die Songs, die gerade cool waren gekauft und bin damit irgendwo zwischen Avicii, „What does the fox say“ und Imagine Dragons stehen geblieben. Ganze Alben habe ich ungefähr nie gehört, der Grund mag bei Faulheit, Desinteresse oder Geldmangel gelegen haben. Was dann irgendwann zur einfach zugänglichen, praktischen Musikpiraterie à la YouTube-Converter und „Lieder per Bluetooth an die Handys der Freunde schicken“ geführt hat. Und ja, auch ich war irgendwann begeistert von der Möglichkeit, kostenlos an alle Musik dieser Welt (okay, die in halbwegs akzeptabler Qualität auf YouTube gelandet ist) zu kommen und ich habe nie hinterfragt, ob das nicht eigentlich für die Künstler:innen wenig profitabel und irgendwie moralisch verwerflich ist. Streaming hat mir dann einen unglaublich komfortablen Weg aufgezeigt, viel Musik zu konsumieren, und das legal.
Jannikas Beispiel zeigt, dass es grundsätzlich zu begrüßen ist, dass Spotify und Konsorten Menschen überhaupt wieder dazu bewegen, für Songs Geld auszugeben. Aber es ist doch irgendwie beschämend, dass sie den Wert von Kultur nur noch zu absoluten Wegwerfpreisen anerkennen mögen. 9,99 Euro monatlich für alle Musik der Welt ist ein Witz, der schlussendlich auch nicht zur allgemeinen Vergünstigung der Industrie, sondern lediglich zu einer Umverteilung innerhalb des Systems führt. Dass Menschen scheinbar quasi keinen Wert mehr im Genuss aufgenommener Musik empfinden, ist auch als Grund dafür zu betrachten, dass wir heutzutage mit immer absurderen Ticketpreisen und Modi bei Live-Konzerten zur Kasse gebeten werden. Dass die Corona-Krise gerade derartig heftig in Musikkreisen einschlägt, ist nun auch der Preis für diese Entwicklung. Würden wir heute noch Platten wie vor ein paar Jahrzehnten kaufen, die Musikschaffenden müssten vielleicht nicht derartig kollektiv um ihre Existenzen fürchten. Glasklarer Whataboutism, aber für mich doch ein zynisches Zeugnis dieser Entwicklung. Und gleichzeitig muss gesagt werden, dass der minimale Preis für Streaming kaum anders sein kann als so, wie er ist - denn dass man für Spotify nur etwas mehr als für ein McMenü bezahlt, ist der Sache angemessen. Streamendes Playlist-Hopping ist Musik-Fastfood und nicht einmal im Ansatz mit dem Gesamterlebnis eines physischen Tonträgers zu vergleichen. Da sind die schön gestalteten Verpackungen, die Haptik und gesamtmusikalische Konzeption, ja schon der Akt des Auflegens Teil der Kunst als solche. Das Besitzen einer Sammlung physischer Gefühlswelten, das ist wirklich Musik, die für immer bleibt - und nicht die Pseudo-Zugehörigkeit einer Offline-Spotify-Bibliothek, die nur so lange existiert, wie der Konzern es möchte oder bis man das Abo eines Tages mal aussetzt.
Das Ding ist - ich hätte ohne Streaming kaum neue Musik entdeckt und hätte wenig neue Künstler:innen gefunden, die ich unterstützen wollen würde, ob durch Konzerttickets, Merch oder eben Musikträger in physischer Form. Und ja, ich finde die 10€ im Monat (bzw. bei Spotify für Studierende 5€) für alle Musik der Welt auch etwas wenig und wäre persönlich dazu bereit, mehr Geld zu zahlen, was meiner Nutzungsdauer vermutlich auch gerechter werden würde (im Vergleich zur Zeit, die ich mit Netflix, Disney Plus etc. totschlage). Aber ich finde wichtig, dass Musik niedrigschwellig zugänglich bleibt und auch Menschen mit wenig Einkommen die Möglichkeit haben, Musik (und Podcasts und was es sonst noch so auf den Plattformen gibt) zu konsumieren. Noch dazu habe ich ein einzelnes Album irgendwann satt, egal wie gut es ist. Die Abwechslung in meinen Playlists und auch über Funktionen wie bspw. Spotify Songradio tut da total gut, neue Musik zu entdecken.
Spotify, Apple Music und Co machen Musikverwaltung und Musiksynchronisation für die Musik to go so einfach wie nie. Früher jede einzelne CD in das Laufwerk des Laptops (womit viele "mobile Computer" heute ja nicht mal mehr ausgestattet sind) legen, importieren, ggf. selber ein Cover suchen und dann mit Handy/iPod/... synchronisieren, ist Aufwand und Zeit, die ich im Alltag lieber anders nutzen würde.
Auch lässt sich per Streaming Musik hören, die man sich niemals kaufen würde. Ich rede hier von Guilty Pleasure Tracks, Musik für den Festivalmorgen oder zum Nerven von Mitmenschen. Von Bibi und Tina über "Guten Morgen Sonnenschein" bis hin zu Finch Asozial - das sind zumindest Tracks, für die ich persönlich kein Geld ausgeben würde, aber trotzdem gerne die Möglichkeit habe, sie offline zu hören.
Die Frage ist doch: Wird Musik für uns weniger zugänglich, weil sie mehr Geld kostet und wir uns entsprechend weniger davon leisten können? Oder macht gerade die Hürde eines Plattenkaufs das Entdecken von Musik so reizvoll, dass wir von einem Album irgendwann nicht mehr genug bekommen können? Wer als Kind sein gesamtes Taschengeld für die neueste Beatles-Platte zusammenkratzen musste, der entwickelt zu Musik ein ganz anderes Verhältnis als derjenige, für den jeder Song der Welt nur einen Klick entfernt ist. Wer mit dem Kaufen einer Platte ein Ritual verbindet, wer mit der Auswahl eines Albums eine gewichtige Entscheidung trifft, der entwickelt eine ganz andere Bereitschaft, sich Musik hinzugeben. Als ich mir früher Videospiele gekauft habe, war das für mich aufregend und mein Budget so knapp bemessen, dass ich wirklich alles gut finden wollte, was ich mir nach sorgfältigem Verpackungsstudieren im Media Markt ausgesucht hatte. Dass ich da manchmal de facto zum größten Mumpitz gegriffen hatte, spielte in meiner Wahrnehmung keine Rolle. Ich habe immer versucht, das Allerbeste in meinem Spiel zu finden - und wenn ich partout nicht weiterkam, habe ich einfach den Anfang nochmal genossen. Man mag nun gern einwenden, dass man so einfach den größten Schrott zu feiern lernt, weil man kaum eine andere Wahl hat, aber ist es nicht gerade das Wunderbare, selbst in den grässlichsten Kunstwerken irgendwie das zu finden, was einen daran anspricht? Durch so eine Form der Wertigkeit und die Bereitschaft, sich auf etwas einzulassen, kann erst eine wahre Verbindung zu Musik entstehen. Und umgekehrt konnten Bands so auch deutlich ungehemmter Platten aufnehmen, die sich nicht gleich beim ersten Mal voll erschlossen - sowieso die generell beste Art von Musik. Heute ist die Zerstreuung nur noch einen Skip-Button in der Playlist weit entfernt, wenn einem etwas auf Anhieb nicht gefällt. Spotify ermöglicht sicher den unmittelbaren Zugriff auf all die Verrücktheiten, Absonderlichkeiten und Vielfalt der musikalischen Welt. Aber all das würde ich nie eintauschen gegen eine einzige Platte, die mir wirklich alles bedeutet.
Vielleicht braucht es einen guten Mittelweg - Streaming aus Zeit- und Bequemlichkeitsgründen, vielleicht aus Geldgründen, aber mit dem Bewusstsein, dass bei den Künstler:innen so kaum Geld ankommt und sich Wege gesucht werden sollten, sie anderweitig zu unterstützen. Und so eine Vinyl oder eine schön gestaltete CD machen auch wirklich was her in der heimischen Sammlung.
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.