From Russia with Love: Shortparis und die russische Musikszene
09.03.2020 | Felix ten Thoren
Noch ein kurzes Wort mit dem Tonmann, dann verschwindet Nikolay Komiagin hinter dem Vorhang und macht sich bereit für den Auftritt. Seine Band Shortparis spielt heute im Indra, eines von zwei Konzerten beim Hamburger Reeperbahn Festival. Sie sind so etwas wie die inoffiziellen Botschafter ihres Landes, denn selbst in dem überaus vielfältigen Programm des großen Musikindustrietreff auf dem Kiez finden sich kaum Acts aus ihrem Heimatland Russland. Hinter Nikolay auf der Bühne sitzt ein stämmiger Drummer in einem Eishockey-Trikot, umringt von seinem E-Gitarristen, dem Keyboarder und einem weiteren Trommler mit wasserstoffblonden Haaren und durchsichtigem Netzhemd. Nikolay hat sich für den Auftritt ein schwarzes Blümchenhemd herausgesucht. Mit durchdringendem Blick betrachtet er sein Publikum, ehe das Licht ausgeht und die Show beginnt. Was folgt, ist weniger ein Konzert als eine sakrale Messe. Mit ekstatischem Blick hält Nikolay das Publikum gefangen, während er im theatralischem Tenor über düster-elektronische Instrumentals singt und sich, seinen Trommler, und später das Publikum in wilde Zuckungen versetzt. Am Ende blickte er verschwitzt und mit unverändert durchdringendem Blick in eine begeisterte Zuschauermenge. Nur wenige hatten seine Band wohl bereits vor dem Konzert auf dem Zettel gehabt, oder überhaupt irgendeine russische Musikgruppe.
Für Bands aus dem größtem Land der Welt ist es augenscheinlich schwer, in der „westlichen“ Kulturlandschaft Fuß zu fassen. Wenn überhaupt mal eine Band auf Aufmerksamkeit stößt, dann im Kontext von politischen Skandalen. Pussy Riot sorgten 2012 für so einen Skandal. Die drei Punkerinnen hatten bei einem Guerilla-Auftritt in der zentralen orthodoxen Kirche Moskaus die Allianz von Staat und Kirche und insbesondere Vladimir Putin kritisiert. Für sie endete die Aktion im Arbeitslager. Inzwischen sind die drei Frauen zwar wieder auf freiem Fuß, wenngleich „frei“ in diesem Zusammenhang eine relative Bedeutung hat. Erst kürzlich wurden sie bei einem Videodreh in St. Petersburg von der Polizei gestoppt. Das Video sei illegal, da es „Homosexualität propagiere“ und zu Extremismus aufrufe, hieß es. Der dazugehörige Song sollte unter anderem vom Widerstand gegen die Polizeigewalt handeln.
Doch nicht nur Pussy Riot haben mit Schikanen zu kämpfen. Ende 2018 sorgte die Verhaftung des Rappers Husky in Russland für Schlagzeilen, der sich in vielen seiner Songs ebenfalls mit Armut und Polizeigewalt auseinandersetzt. Nachdem sein Auftritt im süd-russischen Krasnodar verhindert worden war, stieg er auf ein Autodach und performte seinen Song „AI“, ehe er wegen Rowdytums von der Polizei verhaftet und für vier Tage weggesperrt wurde. Die Empörung in den sozialen Medien war riesig. Schnell organisierten befreundete Rapper ein Solidarkonzert, zu dem tausende Menschen erschienen – mehr als zu Huskys eigenen Shows.
Insbesondere in den letzten Jahren scheint ein Ruck durch die russische Musikszene zu gehen, in dessen Zuge sich auch immer mehr Musiker trauen, sich kritisch zu äußern. Das hat verschiedene Gründe. Einer ist die Krise im eigenen Land. Nach dem russischem Einmarsch in der Ostukraine und den westlichen Sanktionen, zusammen mit dem Einbruch des Ölpreises, hat sich die wirtschaftliche Situation vieler Russen dramatisch verschlechtert. Besonders betroffen sind davon die Jungen. Fast die Hälfte aller Arbeitslosen ist jünger als 34 und das häufig trotz abgeschlossener Ausbildung oder Studium. Die Zustimmungsraten für Putin sind unter jungen Russen deutlich geringer als in den übrigen Bevölkerungsschichten. Viele von ihnen beteiligen sich an Protesten, wie etwa den Anti-Korruptionsdemos des Oppositionellen Alexej Nawalny vor zwei Jahren in Moskau. Ein weiteres Ventil für ihren Frust finden sie in der Musik.
Und noch eine Entwicklung brachte die Wirtschaftskrise mit sich: Durch den schwachen Rubelkurs können sich viele Clubs in Russland die hohen Gagen westlicher Musiker kaum noch mehr leisten. So müssen sie sich gezwungenermaßen unter den heimischen Bands umschauen. Das macht sich bemerkbar, vor allem auf Yandex.Music, dem russischem Spotify-Pendant. Waren in den Top-10 der Jahrescharts 2016 noch ausschließlich englischsprachige Musiker, hörten die Russen 2018 bereits mehrheitlich russische Musik. Die Top-3 in diesem Jahr belegten drei heimische Rapper. So konnten auch kritische Künstler wie die Rapper Husky, Face und NoiseMC, die Rockband Pasosch, oder die Punker von Pornofilmy ihre Zuhörerschaft erweitern. Viele von ihnen haben jedoch mit Auftrittsverboten zu kämpfen, auch wenn sich Wladimir Putin 2018 noch höchstpersönlich gegen solche Maßnahmen aussprach: „Schnappen und nicht reinlassen ist nicht die richtige Strategie.“ Eher solle man nach dem Prinzip vorgehen: „Wenn du es nicht verhindern kannst, dann lenk es in die richtige Richtung." Dennoch gab es im letzten Jahr nach einer Schätzung des Nachrichtenportals Meduza ca. 40 Konzertabsagen, häufig gegen junge Punk-, Electro- und vor allem HipHop-Künstler
Unter diesem Umstand ist eigentlich ein Wunder, das Nikolay und Shortparis von solchen Verboten bisher verschont geblieben sind. Vielleicht liegt es daran, dass sie im Gegensatz zu ihren Musikerkollegen Husky und Pornofilmy einen größeren Interpretationsspielraum in ihrer Kunst lassen. So zum Beispiel im Musikvideo zu „Страшно" (übersetzt: „Unheimlich“). Der Song beschäftigt sich mit gesellschaftlicher Angst und Hysterie, untermalt von einer düsteren und konfusen Visualisierung: Die glatzköpfigen Bandmitglieder in schwarzen Sportjacken, wie sie in eine Turnhalle mit Flüchtlingen marschieren. Ein tanzender Nikolay vor einer Blumenwand. Aufblitzende, arabische Schriftzeichen. Und zum Schluss: Ein blonder Junge mit russischer Flagge, der in grotesk-überspitzter Manier auf einer Sänfte getragen wird, untermalt von den Worten „Ewige, ewige, ehrliche Nation“. „Unser Video versucht den aktuellen Stand eines Teiles unser Generation festzuhalten“, erklärt Nikolay. „Tabus und Ängste werden aufgebrochenen: Es ist egal, ob dort ‚Freundschaft“ und ‚Liebe‘ in arabischen Buchstaben steht – die erste Assoziation bleibt häufig ‚Terrorismus‘, glattrasierte Köpfe bedeutet ‚Nazis‘, und so weiter. Aber am Ende ist das nur ein Spiel mit Bedeutungen. Nur die Angst, die bleibt und wächst.“
Felix ten Thoren
Felix widmet sein Studium der historischen und systematischen Musikwissenschaft in Hamburg. Er wurde mit HipHop sozialisiert, findet aber auch Gefallen an diversen Stilrichtungen von Blues bis Hardcore.