Dark Tranquillity und „Endtime Signals“: Umarmung am Abgrund
02.09.2024 | Marco Kampe
Ob frohlockend im Atomschutzbunker ("Hurra, die Welt geht unter" (K.I.Z.)), anklagend im Sinne des eigenen Engagements ("Endgame" (Rise Against)) oder markerschütternd als bombastischer Endzeitstreifen („2012“ (Roland Emmerich)): Folgt man der Kunst, steht das Ende stets kurz bevor. Dem Reiz des Armageddon folgen nun auch Dark Tranquillity. Multiple, parallel auftretende Krisen geben weltweit den Anlass hierfür, "Endtime Signals" beschäftigt sich indes mit den persönlichen Reaktionen auf ebendiese Gemengelage. Wut und Angst scheinen wie der optimale Nährboden für ein neuerliches Melodic-Death-Metal Album aus Göteborg, ist es doch jenes Metal-Subgenre, welches gezielt den Blick nach innen richtet und den auszufechtenden Kampf keinen Göttern, keinen heldenhaften Sagengestalten oder hochgerüsteten Armeen überlässt.
Nun also "Endtime Signals" - gekleidet in ein wirklich ästhetisches Cover-Artwork, aufgenommen von einem grundlegend veränderten Band-Line-Up und, angesichts der seit der Jahrtausendwende zunehmenden Erfolge, konfrontiert mit einem gewissen Erwartungsdruck. Das Stampfen des anfänglichen „Shivers And Voids“ gibt die Richtung vor. Ein Einstieg nach Maß, der in die Up-Tempo-Nummer „Unforgiveable“ übergeht. Jenes Stück erinnert an die wiedererstarkten In Flames (vgl. „State Of Slow Decay“), das im Textverlauf ausgerufene "No Mercy For The Lost!" ist ernst zu nehmen. Es hat sich etwas aufgestaut, selbst wenn der Spurwechsel zwischen Melodie und tonaler Zerstörung hier nicht zu 100% reibungslos verläuft. Die Band gibt sich resigniert und bedeutungsschwer, doch gleichzeitig erleichtert, dass manch´ schädliche (Gesellschafts-)Struktur vergehen wird. "Neuronal Fire" mutet an wie eine kritische Abhandlung mit dem nicht endenden Informationsstrom, der davon ermüdete Individuen über die arg strapazierenden, sozialen Netzwerke erreicht. Die Gitarrensoli sind intensiv, hier sind Könner am Werk.
"Not Nothing“ wurde in der Promotionsphase des Albums um ein gleichermaßen schönes, wie auch zerbrechliches Musikvideo flankiert. Es nimmt sich der Selbstfindung in unsicheren Zeiten an. Dark Tranquillity machen die großen Themen auf, ohne sie pauschal beantworten zu können oder zu müssen; angenehm gedankenaktivierend, ohne vorgefertigte Sichtweisen. „One Of Us Is Gone“ wohnt eine vergleichbare Schönheit inne. Erwartet uns hier doch tatsächlich eine Ballade? Interessanterweise ja, ein klassisch von Streichern und Piano begleitetes Stück, das zwar nicht atemberaubend innovativ daherkommt, wohl aber jene Luft zum Atmen verschafft, die „Enforced Perspective“ und „A Bleaker Sun“ im späteren Verlauf einfordern. Spätestens hier freut man sich über die vorherige Atempause, auch wenn die zweite Halbzweit z.B. mit "Wayward Eyes" durchaus weitere Momente der Eingängigkeit versprüht.
"The Last Imagination" ist solider, im Kosmos von Dark Tranquillity hoch angesiedelter Durchschnitt, der durch das begleitende Video an Prägnanz hinzugewinnt. Wurden zuvor das Artwork und ein weiteres Musikvideo lobend hervorgehoben, so muss dies an dieser Stelle wiederholt werden. "Our Disconnect" türmt sich bedrohlich langsam auf, man erwartet jederzeit das reinigende Gewitter am Horizont. In Summe bleibt es zwar bei einem mittelschweren Sommerregen, der Titel fügt sich nichtsdestotrotz nahtlos in das Gesamtkonzept ein. "Drowned Out Voices" lebt von zerschmetternder Wut, welche sich mit dezenten Effekten und einem Hauch von Melodie im C-Part den Platz an der Sonne teilt. Die Stärken des Genres kurzerhand in knapp 4 Minuten auf den Punkt gebracht, chapeau! Es ist nicht üblich, dass sich der Rausschmeißer gut anfühlt. Mal bedauert man das zu frühe Ende eines großartigen Albums, mal ist das Ende der Spielzeit ein schmerzhaft herbeigesehnter Fixpunkt, mal ist es schlicht belanglos. "False Reflection" löst den Dreiklang auf, indem es die entstandenen Gefühlsebenen zusammenfasst und um gelungene Klänge erweitert. Ein toller Song mit Mehrwert.
Eine Revolution ruft „Endtime Signals“ nicht aus. Vielmehr verfestigt es die bandeigene Rolle als gefühlter Genre-Liebling für solche Genoss*innen, die zwar Qualität auf dem Plattenteller einfordern, aber von allzu hohen Chartplatzierungen reflexartig angewidert sind. Der rote Faden ist erkennbar und wenn Dark Tranquillity derart konsequent weiter machen, werden sich manche an einen Platz auf dem olympischen Treppchen gewöhnen müssen.
Wertung
Über die Jahre bin ich von Dark Tranquillity zunehmend überzeugt, der Trend kennt nur eine Richtung. Eine wirklich gute Formation.
Marco Kampe
Der vormalige Fokus auf verzerrte E-Gitarren ist bei Marco einem übergeordneten Interesse an der Musikwelt gewichen. Die Wurzeln bleiben bestehen, die Sprossen wachsen in (fast) sämtliche Richtungen. Darüber hinaus bedient er gerne die Herdplatten oder schnürt sich die Laufschuhe.