Gewalt und „Doppeldenk“: Schonungslose Negativität der Realität
05.10.2024 | Frank Diedrichs
Wenn mensch sich die Frage stellt, wie unsere aktuelle Gesellschaft farblich zu umschreiben sei, so liefern Gewalt bereits im Opener die passende Antwort. „Schwarz, Schwarz“ eröffnet ein Album, das (fast) durchgängig ein negatives, düsteres Abbild unserer Gesellschaft projiziert. Auch wenn es sich zu Beginn eher um eine Selbstoffenbarung Wagners handelt, in der er eingesteht, in dieser Welt nicht mehr passend zu sein, so stehen die Innensicht des Texters und die Wahrnehmung der Außensicht in enger Korrelation. Ob das Lyrische Ich in der Welt fehl am Platze ist oder die Welt so kaputt ist, dass sie die Menschen verliert, findet in den nachfolgenden Songs eine eindeutige Antwort. „Halt dich an deiner Liebe fest“ – hoffnungsvoll und intim von Rio Reiser vorgetragen – wird negiert, der Mensch läuft viel mehr verpassten Chancen hinterher, lebt ein Leben in Ausflüchten. Und somit zerstört „Egal wohin der Wind dich weht“ mit dem Austausch eines Wortes alles: „Halt dich an deiner Lüge fest“.
In „Felicita“ findet sich eine weitere Reminiszenz an einen früheren Song. Albano und Romina Power singen in dem gleichnamigen Song von glücklichen Momenten am Strand, mit Freunden, von Geburtstagen und von Glück. Dieses Glück ist vergangen, kaputt und nur noch in Fotos zu finden, das Funkeln des Kristalls negiert sich zum tödlichen „Crystal“. Das Aufgeben von (innerem) Glück führt letztlich dazu, das Innere unseres Hauses mit all den scheinbaren Annehmlichkeiten zu füllen, die der Gott des Kapitalismus zu bieten hat. Der Song „Ich kann das nicht“ greift das Haus-Motiv aus „Felicita“ erneut auf und präzisiert durch eine erschreckende Auflistung die Hausbesetzer, die uns den Raum zum Leben nehmen. Das Lyrische Ich stellt sich die Frage, ob die Flucht aus diesem Haus der richtige Weg sei, stellt aber fest, „das läuft so nicht“ – ein Aufruf zum Widerstand!? Greift „Hier, wo du strahlst“ den Widerspruch zwischen dem gleißenden Rausch der Drogen („in goldner Rüstung“) und äußerer Wahrnehmung („in schwarzem Licht“) auf, ist „Jemand“ eher als Warnung zu verstehen, dass unsere Welt von all den Trumps, Putins oder Weidels in Marschformation ins Verderben geführt werden: „Jemand hält die Welt in Atem, weil man ihn lässt“
Die „moderne“ (sic!) Kriegsführung, die in „Monolog einer Drohne“ beängstigend geschildert wird, beschreibt die Abstumpfung Opfern und Zerstörung gegenüber: „Töten nach Protokoll“ schafft Distanz, Gleichgültigkeit und eine weitere Stufe absoluter Entmenschlichung von Krieg. Der Abschlusstrack „NeNe, Alles gut“ schafft es, genau diese Small Talk-Phrase als Lüge zu enttarnen. An Anlehnung an das Theaterstück von René Pollesch und Fabian Hinrichs endet der Song in einem hallenden Chor, der die Situation mit „Ja, nichts ist okay“ entlarvt. Ähnlich wie Pollesch und Hinrichs horchen auch Gewalt „am kranken Herz der Gegenwart“, wie es in einer Theaterkritik heißt.
Zwei Songs stehen dieser kranken Gegenwart aber doch eher positiv gegenüber. „Ein Sonnensturm tobt über uns“ vermittelt durchaus ein gesellschaftliches Endzeitszenario, aber genau dies kann dazu führen, sich wieder auf die Verletzlichkeit, das Herz und die hingebungsvolle Liebe zu besinnen. Der homophoben und transfeindlichen Gesellschaft stellt sich „Trans“ entgegen. Gewalt schaffen einen universellen Song, der einem Bekenntnis gleicht und die Gewissheit schafft, dass das, was MENSCH ist, aus sich heraus geschaffen wird.
Die Band Gewalt besteht aus vier Mitgliedern. Neben Patrick Wagner, Helen Henfling und Jasmin Rilke wird bewusst der LinnDrum aufgeführt. Der Drum-Computer dominiert mit den Synthies den Sound, der Elemente von Industrial, Post Punk, Dance und New Wave aufgreift. Die Gitarre ordnet sich dem Sound unter, tritt verzerrt auf und nicht immer erkennbar. Vielmehr stellt sich die Frage, ob hier gerade wirklich ein(e) Gitarrist:in spielt oder doch eher ein Computer die Sounds generiert („Egal wohin der Wind dich weht“). Der Einsatz einzelner doch untypischer Instrumente im Gewalt-Kosmos wie die Bläser in „Felicita“, machen die Songs vielschichtiger.
Die Songs sind geprägt von einem sehr tanzbaren Rhythmus, ein Credo, welches die Band auf ihrer Homepage auch klar formuliert: „We come to make you dance […]“ Fast jeder Track zieht die Hörenden in einen Bann, in einen Takt, der mensch Arme wirbelnd und um sich selbst kreiselnd vergessen lässt, dass die Texte dem entgegenstehen. „[…] to blow your mind“ ergänzen Gewalt ihr Credo. Und sie hauen um, indem sie in Orwell’scher Manier den Hörenden und Tanzenden vor Augen führen, dass die Menschen die objektive Realität verleugnen, ihre Lügen glauben und die zur Realität werden. „Doppeldenk“ nennt dies Orwell. Somit wird wieder ein Stück dieser Dystopie, die vor über 70 Jahren geschrieben wurde, zur Realität. Laut Pressetext soll dieses Album ein Notschrei sein, der genau darauf hinweist. Lasst uns nicht nur zuhören, sondern handeln.
Wertung
„Doppeldenk“ ist ein Album, welches mich bereits nach dem ersten Hören aus meiner Komfortzone herausgeholt hat. Waren es zu Beginn die Ähnlichkeiten zu DAF, die mich neugierig machten, so kristallisierte sich nach und nach die unverwechselbare Rhythmik, der mit Drum-Computer produzierte Sound zwischen Industrial und Post Punk und diese wahnsinnig negierte Sicht auf die Gesellschaft als individuelle Stärke dieses Werks heraus.
Frank Diedrichs
Frank lebt seit über zwanzig Jahren in der Mitte Niedersachsens und unterrichtet Kinder und Jugendliche an einer Oberschule. Nach seiner musikalischen Erstprägung durch die Toten Hosen und Abstürzenden Brieftauben erweiterte er seine Hörgewohnheiten: Folkpunk, Singer-/Songwriter, Blues, Deutschpunk, US-/UK-Punk. Dabei kommt von Johnny Cash über The Beatles und Pascow bis hin zu Marvin Gaye eine Menge Vielfalt aus den Boxen, am liebsten als Vinyl.