The Joy Formidable und „AAARTH“: Kontrollierte Entgleisung
25.09.2018 | Erik Swiatloch
Gleich der erste Track des neuen Albums der britischen Band zeigt, wo es langgeht. Dieses Album wird nicht viel mit seinen Vorgängern am Hut haben. Es bricht über einen herein, mit waghalsiger Experimentierfreude und explosivem Charakter. Musik als pure, kraftvolle Emotionalität. Und genau so rasant verfliegen jegliche Erwartungen an diese Platte und man ist gezwungen zuzuhören, was als nächstes kommt.
The Joy Formidable stehen seit über zehn Jahren auf den großen Bühnen und nach einer Handvoll veröffentlichten Alben hört man in „AAARTH“ sofort, dass hier Musiker am Werk sind, die genau wissen was sie tun, aber einfach keine Lust mehr auf Standard, 08/15 und Vorhersehbarkeit der Musikszene haben. „Y Bluen Eira“, der erste Song der Scheibe, lässt einen erstmal glauben, der CD-Player wäre kaputt, nur um einen kurz danach in einen Fight Club zu ziehen, in dessen Mitte man von heftigen Gitarrenriffs und pulsierenden Drums rücksichtslos verprügelt wird, man allerdings dabei das seltsame Gefühl hat, sich lange nicht mehr dermaßen lebendig gefühlt zu haben. Doch man muss kein Masochist sein um Gefallen an der Musik zu finden. Denn wer auf Tool steht, Fan von Warpaint ist, gerne Charlotte Gainsbourg hört oder zu Nico Vega tanzt, wird ganz genau so auf seine Kosten kommen.
Hinter dem breiten und immensen Klangteppich vermutet man mehr als nur drei Musiker. Das liegt zum einen an dem sehr guten punktuellen Einsatz von Synthesizern und experimentellen Sounds unbekannten Ursprungs. Zum anderen weiß Ritzy Bryan, Kopf und Sängerin der Gruppe, ihre Stimme nicht als aufdringliches und vordergründiges Element einzusetzen, sondern schmiegt sie homogen wie ein zusätzliches Instrument in die Arrangements ein.
Das Artwork visualisiert erschreckend gut das komplette Album. Es ist bunt. Beinhaltet sämtliche Formen, zeigt Tiere und Fabelwesen, ist komplett chaotisch und birgt dennoch seine ganz eigensinnige Ordnung. So gibt es neben den überwiegend treibenden Songs auch kleine Oasen wie „All In All“ oder „Abscence“, die zum Zurücklehnen und Träumen einladen.
Leider gibt es einen nicht unwesentlichen Punkt, der die ganze Freude an dem doch sehr erfrischendem Album trübt: Es ist nicht gut gemischt. Dadurch fällt es schwer, das Album öfter und vor allem laut zu hören. Da geben die vorangegangenen Releases mehr her, mit druckvollerem und klarerem Sound.
Dennoch ist „AAARTH“ ein guter Beweis dafür, dass man das musikalische Rad nicht neu erfinden muss, um einen zeitgemäßen und zugleich außergewöhnlichen Sound zu kreieren. Es reicht schon, das Beste aus Bestehendem zu nehmen und sein eigenes geordnetes Chaos dazu zu werfen.
Wertung
„AAARTH“ schlängelt sich wie ein überdimensionales, vielschichtiges Kunstwerk zwischen den Genres hindurch und hinterlässt dabei einen angenehmen Schmerz. Wird das nächste Album noch etwas experimenteller und rücksichtsloser, hat es auf jeden Fall das Zeug zum zeitlosen Klassiker!
Erik Swiatloch
Erik kommt aus dem nebelverschleierten Thüringer Wald. Das erklärt wohl auch seine Vorliebe für melancholische und bedrückende Klänge. Als Filmkomponist, Musiker und Tonstudiobetreiber hat er in seinem kompletten Alltag mit nichts anderem als Musik zu tun.