Leon Vynehall und „Rare, Forever“: Ein Rausch
21.05.2021 | Lukas Moore
„Rare, Forever“ ist keineswegs ein House-Album im klassischen Sinne. Vergeblich sucht man in weiten Teilen des Albums nach den typischen Strukturen, nach markant pulsierendem Bass, Synthesizer Sounds und dem musikalischen Brodeln, welches meist nach knapp einer Minute in tanzbaren Clubhymnen endet. Dazu trägt auch die genreuntypische thematische Tiefe des Albums bei: „Die Auseinandersetzung mit der Seele und die Erforschung des Geistes.“
Den Release und den einhergehenden Enstehungs-Prozess des Albums begleitet Vynehall mit zahlreichen Texten und kunstvollen Artworks auf seiner Instagram-Seite. Auffallend ist dabei die auch auf dem Album-Cover erscheinende Schlange – dazu später mehr. Ähnlich mit Sinnbildern aufgeladen war auch schon das Vorgängeralbum “Nothing Still” Dort widmete er sich im Schreibprozess der Emigrationsgeschichte seiner Großeltern und ihrer Einreise nach New York in den 1960er Jahren in Form eines musikalischen und sehr persönlichen „Romans“. „Rare, Forever“ behält diesen Weg eines konzeptuellen Albums bei. Nach und nach bietet es einem die Möglichkeit, sich auf die Reise einzulassen. Wie bei einem Rausch geht „Rare, Forever“ dabei sehr heimlich vor und ehe man sich versieht, haben die Tracks einen in den Bann gezogen und man findet sich in den herausstechenden Parts vieler Songs wieder.
„Ecce! Ego!“ (Latein, übersetzt: „Sieh! Ich!“) ist hierbei der lockere, sanfte Einstieg in das Album. Ein Track wie eine Einladung, ein netter Smalltalk bevor es losgeht, der Moment, bevor sich auf der Achterbahn der Bügel zum Festhalten schließt. Es folgt bald darauf „Snakeskin – Has Been“ – eine Beschreibung des Wachstums einer Schlange, die ihre alte, leere Hülle hinter sich lässt. Leon Vynehall erlebt den Prozess des Schreibens als eine Art Weiterentwicklung, als Aus-sich-selbst-herauswachsen. Ein sinnstiftender Prozess, der sich auf mehr als Augenblicke vollkommener Ekstase bezieht, wie es bei House oder Techno eher die Regel ist. In dem Song bewegt sich alles unglaublich schnell. Man spürt es in allen Bereichen arbeiten. Es ist, als würde man im Maschinenraum des Körpers sitzen. Alles agiert und reagiert aufeinander. Man hört förmlich den Dampf der pulsierenden Maschine, von der man umgeben wird.
Tracks wie “Alichea Vella Amor” schaffen durch pulsierenden Bass, das repetitiv-gesprochene und schwer zu entzifferbare Mantra eine Atmosphäre einzufangen, in welcher konstant gearbeitet wird und Teile in sich greife und dabei ein höheres Ziel zu erfüllen: Funktion. Darüber spielt ein Saxophon mystische Melodien, einer dieser vielen Akzente, die Vynehall gerne einmal setzt. In anderen Songs lässt er Streicher erklingen.
Der Track „Mothra“ beschreibt gut die Tiefe des gesamten Werkes. Es ist ein Prozess. Eine Zusammensetzung verschiedener Pattern und Muster. Dieser neue Stil und Sound findet über die komplette Länge des Albums sehr viel Raum, um sich zu entfalten. Das gesamte Album wirkt wie ein ehrlicher Akt der Selbstbefreiung. Die vielen Facetten der Platte nehmen mit und begeistern. Es fordert die volle Konzentration und mehr als den schieren Konsum – eine Erkundung, auf die man sich einlassen sollte.
Wertung
Wer mit so einem Konzept startet, droht zu stolpern. An einigen Stellen fehlen griffige Parts und Tracks, die der ganzen Idee hinter dem Album Charakter verleihen. Die Gänze dieses Konzeptes bleibt wohl am Ende vielen Zuhörer:innen verwehrt, trotzdem kann man nicht von einem schlechten Album sprechen. Vielleicht ist dieser „Rausch“ und die Suche nach dem „Selbst“ aber in Zeiten von sozialer Isolation grade so besonders wichtig.
Lukas Moore
Als Westfale ins Rheinland gezogen, spielt Lukas Schlagzeug in einer Shoegaze-/ Post-Punk-Band. Seine Wurzeln liegen, seinem Gitarrenlehrer-Vater geschuldet, im Jazz. Er arbeitet in Düsseldorf im Kulturausschuss mit und studiert nebenbei Sozialwissenschaften.