Raum27 und "Anfangen Anzufangen": Debüt nach Maß
30.05.2023 | Mark Schneider
Sie waren zuletzt mit den Rogers auf Tour, schürten mit Singles wie "Ruf mich nicht an" oder "Sommerregen" genauso viel Vorfreude wie Neugierde auf ihr neues Album, einen Sommer voller Festivalshows und die eigene Tour zum Jahresende. Die erfolgreichste Single der Band aus dem Jahr 2019, "Oft gesagt", rast auf die Marke von fünf Millionen Streams beim grün gefärbten Marktführer zu. Nun folgt das nächste Highlight für Mathis und Tristan, aus denen die Band Raum27 besteht: Das Debütalbum "Anfangen Anzufangen". Was die beiden hier auf die Beine gestellt haben, verdient Bewunderung und Respekt gleichermaßen. Schon auf ihrer ersten EP "Traurig aber ist so", im gleichnamigen Song, erkannte die Band die Problematik darin, sich in der aktuellen Zeit in ihrem Genre zu behaupten. Kaum spielt man deutschen Pop und wurde mit einer rauen Stimme gesegnet, brechen die Kraftklub- und Henning May-Vergleiche über einen herein. Der Umgang damit für Raum27: Die Vorurteile frühestmöglich aufs Korn nehmen und das eigene Ding durchziehen. Eine Entscheidung, die bis heute in allen Lebenslagen eine weise ist und aus der sich über vier Jahre dieses erste Album der Band entwickelt hat. Umso schöner, dass in Zukunft nicht mehr beinahe ausschließlich die Bands von Felix oder Henning mit diesem Stil assoziiert werden. Das bleibt der Menschheit zumindest zu Wünschen.
"Anfangen Anzufangen" umfasst dreizehn Titel und läuft stattliche 42 Minuten und 35 Sekunden. Das Album dreht sich inhaltlich um Melancholie, um Liebe und den dazugehörigen Kummer, um Abneigung, um die Welt und das Klima, um Bremen und um einiges mehr. Auf der musikalischen Ebene betrachtet machen Raum27 dabei vieles richtig. Meistens bewegen sich die Titel in ruhigeren Schienen und lassen dabei viel Platz für Emotionen und Inhalt. Es wird auf Störgeräusche und jegliche Hektik verzichtet, um die Titel ihre nötige Tiefe entfalten zu lassen. Beginnt man beim Hören damit, die Titel auseinander zu sortieren, kann man immer wieder neue Aspekte entdecken. Das ist manchmal ein einfaches Klatschen im Hintergrund, manchmal sind es leise Keyboardklänge, die man im Großen und Ganzen beinahe überhört hätte.
Wer bis hierhin Angst hatte, ein Album zum Einschlafen vorgestellt zu bekommen, darf an dieser Stelle aufatmen. Raum27 können auch die verzerrten Gitarren bestens einsetzen und Songs wie "Vermiss dich" oder "Plattenbaum" mit der nötigen Energie aufladen, um vor allem live gespielt für Bewegung vor der Bühne zu sorgen. Wem es bei der auf Klavier und Gesang beschränkten Ballade "Bremen" jedoch passiert wegzunicken, hat den Titel schlichtweg zu leise laufen lassen. Ansonsten röhrt Tristan den Text hier so inbrünstig, dass manch Rothirsch sich im Herbst auf den Weg zum Zweikampf machen würde. "Das Klima wieder hin" reflektiert das eigene Verhalten eines jeden einzelnen, sei es im Bezug auf Billigflug oder darauf die gerauchten Kippen in der Natur entsorgen. Der Titel des Songs ist hier bewusst zweideutig gewählt, da der Ausgang des Kampfes gegen den Klimawandel und seinen Folgen absolut offen zu sein scheint.
Absoluter Anspieltipp der Platte ist "Marktwert". Ein Song, der durch seinen Beat und seine Aufmachung direkt zum Mitgehen animiert und das Prinzip der Musik von Raum27 gut wiederspiegelt. Und auch wenn es nicht dieser Track sein wird, der den Weg in die Radiosender des Landes finden wird, und es vielleicht noch das nächste Album brauch, welches dann im Gegensatz zu "Anfangen Anzufangen" nicht mehr für circa 10.000 Instagram-Follower, sondern für ein Vielfaches davon beworben wird: Wir werden noch viel von Raum27 sehen und hören, wenn Tristan und Mathis ihrer Linie treu bleiben und weiterhin mit so viel Herzblut, ohne Rücksicht auf Kommentare und Vergleiche, diese Musik machen. Auch das ist eine mutige These. In der Hoffnung sie bewahrheitet sich.
Wertung
Selten war ich von einem Debütalbum so begeistert wie hier. Auch wenn Raum27 meine musikalischen Vorlieben nur bedingt bedienen, habe ich mich live von ihnen anstecken lassen und ein Gefühl dafür bekommen, wo die Reise der Band hingehen könnte. "Anfangen Anzufangen" vereint großartige Melodien, Emotionen und geht inhaltlich über bedeutungsloses Gejammer hinaus. Meine Rezension zum Album ist mit ernst gemeinten Thesen zur erfolgreichen Entwicklung der Band gespickt und ich drücke dafür beide Daumen!
Mark Schneider
Mark kommt aus der wunderschönen, ländlichen Provinz zwischen Siegen und Marburg an der Lahn. Ob kleine Acts im Club oder Musikgiganten vor Tausenden: Besucht wird, was laut ist und Spaß macht! Dabei sind im Genre (fast) keine Grenzen gesetzt.