Razz und „Might Delete Later“: Löschen oder nicht löschen, das ist hier die Frage.
11.06.2021 | Dave Mante
Die Indie-Rockband Razz überzeugte in der Vergangenheit bereits mit eingängigen und teils unerwartet rauen Klängen. Ihr letztes Album „Nocturnal“ erreichte Platz 55 in den Charts und brachte der Band sogar Supportslots bei Jimmy Eat World und Mando Diao ein. Fast vier Jahre und eine kleine Pause später bringen die Emsländer nun die EP „Might Delete Later“ heraus und lassen bereits mit der ersten Single „1969 – Conrad“ tief blicken. Das Raue ist verschwunden, es bleibt eine neu eingeschlagene Richtung und die damit verbundenen Experimente. Also wirklich löschen oder lieber da lassen, wo es ist?
Bereits mit den ersten beiden Songs, welche auch als die ersten Singles der EP herhalten, schaffen Razz einen sphärischen, sehr anderen Klang. Während „1969 – Conrad“ einen temporeichen und gar fröhlichen Kontrast mit den Lyrics über Gesellschaftskritik und Selbstreflexion bildet, schafft „Like You“ eine Blase der Melancholie, welche durch Klavier und etwas mehr vom Indie-Rock-Sound überzeugt und mit einer Bombast-Bridge die schiere Instrumentalgewalt des Quartetts aufzeigt. Diese beiden Songs legen dabei gut den Grundtonus des Textes fest. Von der Band passend als „Mut zur Unperfektheit“ beschrieben, handelt das Album mal mehr und mal weniger vom dauerhaft präsenten gesellschaftlichen Druck, welchem Menschen täglich durch Social Media und Co. ausgesetzt sind und das jedes Individuum sein Handeln mehr reflektieren und schätzen sollte. Dies erklärt auch den Titel „Might Delete Later“ – eine gängige Phrase, welche darauf beruht, dass man selten mit sich und seinem Schaffen so sehr zufrieden ist, dass es länger als ein paar Momente in der Öffentlichkeit existiert.
Ab Track drei befinden sich die Songs im stetigen Wandel. Ständig brechen Razz mit dem gerade Gehörten und werfen ein neues Element in den Sound. „Constant Flow“ liefert eine Mischung aus ruhigem Akustik-Song mit atmosphärischem Rauschen und einem Zickzack aus Schnell, Laut, Langsam oder Leise und steht damit stellvertretend für das Hin und Her der ganzen Platte. „Ocean (Without Any Waves)“ besinnt sich zurück auf die Synthies des ersten Songs und klingt generell sehr wie dieser.
Hier lässt sich dann auch das Motiv des 80s-Synthie-Pops raushören. Der Track klingt in Teilen wie der Opener für einen Hollywoodfilm beziehungsweise wie der Soundtrack für die Fahrt an einer Küste bei heruntergelassenen Fenstern. „Reverberating“ schmeißt dann noch etwas mehr eingängige Indie-Rhythmen in den Topf und bringt im letzten Drittel einen Refrain, welcher zu den Highlights der Scheibe gehört. Generell werfen Razz mit unerwarteten Momenten um sich wie eine Dramaserie auf Netflix, sobald es auf das Ende einer Folge zugeht.
Das Album endet mit „Game“ sehr seicht. Die Band fährt alles herunter und die Metapher der Autofahrt lässt sich auch hier wieder anwenden. Leider fehlt ihm das gewisse Etwas und er wirkt alleinstehend etwas belanglos, was in Anbetracht der vorherigen Songs jedoch kein großes Problem darstellt.
Razz haben mit „Might Delete Later“ nicht nur einen neuen Sound für sich selbst gefunden, sondern auch ein mehr als gelungenes Experiment abgeliefert. Die Fusion aus Synthie, Indie und Rock ist wahnsinnig eingängig und macht sehr viel Lust auf mehr vom neuen Razz-Sound. Hier und da fällt mal ein Part in den Hintergrund, dies wird jedoch von den vielen überraschenden und herausragenden Momenten sofort wieder wettgemacht. Bitte löscht das später nicht!
Wertung
Razz versetzen die Hörer:innen mit „Might Delete Later“ in einen gefühlslastigen Roadtrip. Meine Gedanken schwirrten danach zwischen einer nächtlichen Autofahrt auf einem nie endenden Highway und dem langsamen Wandern zwischen Neonschildern, welche von den zurückgelassenen Spuren der vergangenen Nacht reflektiert werden. Die Symbiose von Synthies, treibenden Gitarrenrhythmen und den melancholischen Lyrics schaffen eine Atmosphäre, in welcher man schwelgen kann und auch sollte!
Dave Mante
Aufgewachsen zwischen Rosenstolz und den Beatles hört sich Dave mittlerweile durch die halbe Musikwelt, egal ob brettharter Hardcore, rotziger Deutschpunk, emotionaler Indie oder ungewöhnlicher Hip Hop, irgendwas findet sich immer in seinen Playlisten. Nebenbei studiert er Kunstgeschichte, schlägt sich die Nächte als Barkeeper um die Ohren oder verflucht Lightroom, wenn er das gerade fotografierte Konzert aufarbeitet.