Touché Amoré und „10 Years // 1000 Shows“: Ein Feuerwerk zum Jubiläum
03.11.2018 | Merten Mederacke
Als ob es nicht schon beeindruckend genug ist, 1000 Shows in zehn Jahren vom Zaun zu brechen, so kratzen Touché Amoré ihr erstes vierstelliges Konzert auch noch auf Tonträger und lassen weit mehr Leute daran teilhaben, als das Regent Theater in ihrer Heimtstadt Los Angeles jemals fassen könnte. Gegründet hat sich die Band um Frontmann und Texter-Genie Jeremy Bolm 2008. Seitdem wurden eigentlich alle Kontinente der Welt bespielt, eine riesige Fangemeinde hinter sich versammelt, eine LP und vier Studioalben sowie Split-EPs mit unter anderem Genrelieblingen wie La Dispute veröffentlicht. Auch eine Bandpause im Jahr 2014 nahm man sich – verdient. Denn auch wer die Füße nie stillhalten kann, braucht Zeit für Familie und die Selbstpflege. Umso deutlicher wird das, wenn man bedenkt, dass das Album, welches zwei Jahre nach dieser Pause erschien, das kathartische Abschiedswerk „Stage Four“ war. So kommt es also, dass die 1000. Show und das 10-jährige Jubiläum beinahe auf denselben Tag fallen. Ein Ereignis, dass man nur zu gern auf Tonträger bannt.
Und was „10 Years // 1000 Shows“ auf seinen Rillen beherbergt, ist in beinahe jeder Hinsicht fantastisch: Eine herausragende Liveband, die ein umfassendes Set von 27 Songs zu ihrem dekadischen Jubiläum in ihrer Heimatstadt vor 1100 Leuten präsentiert. Fakten, die man vielleicht kennt, aber selten auch hört. Auf „10 Years // 1000 Shows“ ist das anders. Man hört den Schweiß treiben, die zuckenden Glieder und ihre ungelenken Bewegungen beim Tanzen, die (in den ersten Reihen vermutlich nicht nur) ekstatisch verzerrten Gesichter, die Textsicherheit im Publikum. Jeder Gänsehautmoment dieser Show kann in das heimische Wohnzimmer transportiert werden.
part
Die Band eröffnet klassisch mit „~“ von „Parting The Sea Between Brightness And Me“ und entlässt mit „Honest Sleep“ von ihrer ersten selbstbetitelten EP. In diesen Rahmen malen sie in den für sie üblichen gellenden Farben perfekte Adaptionen von Edvard Munchs „Der Schrei“ bis hin zu Picassos verkorkstem „Stillleben unter der Lampe“. Songs und Emotionen, Erlebnisse und Eindrücke aus 10 Jahren Band- und Lebensgeschichte. Insbesondere die Leidensgeschichte seiner Mutter, die Texter Bolm in allen Facetten auf „Stage Four“ aufarbeitet, das Gefühl, nicht gut genug zu sein, oder einfach nur die unterschwellige Angst vor dem, was vielleicht noch kommen könnte und der Kampf darum, das eigene Seelenheil zu wahren, kennzeichnen seine Texte.
Ein weiteres Zuckerstück der Show beglückt die aufmerksamen Ohren kurz vor Ende der Platte. Die 2010 erschienene bereits erwähnte Split-EP mit La Dispute „"Searching For A Pulse/The Worth Of The World" enthält zwei Songs von jeder Band. Beide Touché-Amoré-Songs finden sich auch auf dem Jubiläumsalbum wieder. Und bei „I'll Get My Just Deserve“ darf Jordan Dreyer von La Dispute dann auch seinen Teil beisteuern. Ein genauso fantastisches Duo wie Bolm featuring Publikum.
Eingangs bereits erwähnt veröffentlichten Touché Amoré im Laufe der Jahre über 60 Songs. Mit einer Live-Auswahl von 27 davon jagen sie das Publikum und den Hörer zuhause durch knapp die Hälfte davon. Eine der intensivsten Achterbahnfahrten der Post-Hardcore Geschichte mit zahlreichen Loopings und Kopf-über-Passagen, wie zum Beispiel „Flowers And You“ oder „Adieux“. Doch auch „Is Survived By“ ist ein ganz besonders emotionaler Höhepunkt des gerade einmal 65 Minuten langen Sets. Dabei ist Bolm kein Mann großer Worte zwischen den Liedern. Grade einmal zwei längere Ansagen schneiden durch das sonst flotte Set. Doch diese Band braucht auch nicht viele Worte neben ihren Songtexten zu verlieren. Dass Touché Amoré auf ihren Konzerten weit mehr als nur unterhalten wollen, weiß jeder, der sie bereits live erlebt hat. Ihre Musik und ihre Live Shows – jetzt beides gebannt auf einer Platte – können einen gordischen Gedankenknoten, ein überfordertes Herz, eine erschöpfte Seele vielleicht ein Stückchen wieder zusammenflicken. Wenn ein Stück Livemusik das schafft, kann man gar nicht anders, als es zu umarmen.
Und wo manch einer sicher denkt, eine Stunde für ein Jubiläums-Headliner-Set sei nicht viel, der hat noch nicht versucht, mehr als 60 Minuten zu Touché Amore zu zappeln. Denn auch wenn es gepresst letztlich ein Album ist, das eher in gemütlicherer Umgebung als am Ort der Entstehung gelebt wird, so ist „10 Years // 1000 Shows“ immer noch ein Touché Amoré Live-Album. Ein Live-Album, auf dem die Band beweist, wo ihre Qualitäten liegen. Ein Live-Album, welches heraussticht. Ein Live-Album, das schreit und erlöst. Happy decade, happy anniversary!
Wertung
Wer nach 10 Jahren immer noch oder jetzt erst recht derart gefühlvoll und spritzig frisch eine 1000er-Venue zu begeistern vermag, der hat es verdient, in der Top 5 des Jahres aufzutauchen. Wunderbar feinfühlig abgemischt - ein grandioses Stück Livemusik.
Merten Mederacke
Merten hat Soziologie, Politik und Philosophie studiert. Seit Jahren treibt er sich auf Konzerten und Festivals herum und fröhnt allem, was Gitarre, Rotz und Kreativität so ergießen. Bei Album der Woche versucht er stets, den Funken seiner Passion auf jeden Lesenden überspringen zu lassen.