Twenty Øne Pilots und “Scaled And Icy”: Clancy ist tot.
02.06.2021 | Kai Weingärtner
Schon die ersten Teaser-Fotos zum heiß erwarteten neuen Album des Crossover-Pop-Duos aus Columbus Ohio gaben Hinweise auf die stilistische Kursänderung, die Fans der Band auf “Scaled And Icy” zu erwarten hatten. Der Geier, der noch manisch stierend das Cover zu “Trench” zierte, ist offensichtlich mittlerweile flügge geworden und hat seinen Platz an einen babyblauen Drachen abgegeben. Der triste, duochrome Schwarz-Gelb-Look weicht Pastellfarben und Art Nouveau. Eins muss man Twenty Øne Pilots lassen: sie geben sich immer größte Mühe, ihre Alben stringent durch zu konzeptionalisieren. Denn die seichte, hellbunte Optik findet sich auch im Soundbild des Albums wieder. Schon die ersten beiden Songs “Good Day” und “Choker” bestätigen diesen Eindruck. Weg sind die knorrigen Bassriffs und bissigen Rap-Parts, stattdessen gibt es hier cheesigen Radio-Pop, der krampfhaft versucht, die eigene Indiefahne (die in diesem Fall eher dem Wimpel an einem Kinderfahrrad ähnelt) hochzuhalten. Hat die formals edgigste Major-Label-Band der Welt etwa ihren Biss verloren? Der auf Hochglanz polierte Chorus von “Choker” sagt: ja.
Die erste Vorabsingle “Shy Away” kommt währenddessen wie die verlorene B-Seite einer The-Kooks-Platte daher, soll dabei aber wohl die große Neuentdeckung von Twenty-Øne-Pilots-Mastermind Tyler Joseph zur Schau stellen: die E-Gitarre. Seine ersten Gehversuche auf sechs Saiten hatte der Frontmann schon auf der Coronasingle “Level Of Concern” unternommen, mit “Scaled And Icy” hat er hier die Präsenz nochmal deutlich erhöht. Eigentlich könnte man von einer für ihre ungewöhnlichen Genrekombinationen bekannten Band wie Twenty Øne Pilots erwarten, sie würden diese neue Akquisition auf eine kreative Art und Weise in ihre Musik einbinden, leider reicht es hier maximal für ein paar blasse Surf-Pop-Spielereien ohne viel Tiefgang, von neuen Ideen ganz zu schweigen. Musterbeispiel dafür ist der Song “Saturday”, der mit seinen penetranten Beach Vibes und den vergessenswürdigen Lyrics den Tiefpunkt von “Scaled And Icy” markiert.
Leider kratzt Joseph auf der neuen Platte auch was seine Performance als Vokalist und Texter anbelangt gerade mal am Stiefelabsatz von “Trench”. Lines wie With my shoulders squared and my back straight / Got a good base and a loose tongue / Notorious in the octagon vom vorletzten Track “No Chances” sind bereits das höchste der Gefühle, während Joseph auf dem Vorgänger noch mit Jawdroppern wie diesen hier aufwartete:
This culture is a poacher of overexposure, not today / Don't feed me to the vultures, I am a vulture who feeds on pain (“Levitate”)
Den besten Rap-Part der Platte steuert Joseph nach knapp 32 min Spielzeit auf dem Closer “Redecorate” bei, der als einer der wenigen Lichtblicke des Albums das Ende der gerade einmal 37-minütigen Platte markiert. Leider fühlt sich diese Nicht-Mal-Dreiviertelstunde auch wegen der teils sehr repetitiven Songstrukturen länger an als sie eigentlich dürfte. Und selbst an den wenigen Stellen, an denen die süßlich-leichte Fassade ein wenig zu bröckeln scheint, wie zum Beispiel beim Halftime-Part in der Bridge von “Shy Away” oder dem erdrückenden Intro von “No Chances”, wird die Intensität sofort wieder auf ein erträgliches Medium heruntergefahren. Das bedeutet auf Albumlänge, dass die Platte statt schuppig eher glattgebügelt und statt eisig eher lauwarm daherkommt.
Auf lange Sicht bleibt bei Twenty Øne Pilots aber wie immer die Frage nach der tieferen Bedeutung, denn auch hier gibt es wieder massig Hinweise auf eine tieferliegende Ebene, die dem ansonsten blassen Album etwas mehr thematisches Futter bieten könnte. Allerdings täuscht dieses Versprechen einer Fortsetzung von Clancy’s Reise nicht über die musikalischen Schwächen von “Scaled And Icy” hinweg.
Wertung
Man kann Twenty Øne Pilots nicht vorwerfen, sie würden musikalisch nichts Neues ausprobieren, nur leider wäre in diesem Fall “weiter wie vorher” die wesentlich interessantere Richtung gewesen.
Wertung
Twenty One Pilots tanzen auf dem schmalen Grat zwischen Ohrwurmpotential und nervigem Handyklingelton. "Scaled and Icy" hat was von Musical-Filmsoundtrack und man kann die Ukulele-Cover schon kommen hören. Bewegter als das Mitwippen der Zehen macht mich das Album aber leider nicht.
Kai Weingärtner
Kai studiert zur Zeit mehr oder weniger erfolgreich Politikwissenschaft und Anglistik in Osnabrück. Da man damit natürlich keinerlei Aussichten auf einen “vernünftigen” Job hat, ist er nun bei Album der Woche angeheuert um sich seine Zukunft als Taxifahrer etwas aufzulockern. Sein Musikgeschmack umfasst alles, was E-Gitarre und Schlagzeug hat oder anderweitig Krach macht.