Twenty Øne Pilots und was Emorap hätte werden können
21.01.2022 | Kai Weingärtner
Bevor ich an dieser Stelle weiter mit dem Begriff “Emo” um mich werfe, ist wohl ein kurzer Disclaimer angebracht: Im Internet finden sich wahrscheinlich annähernd so viele Meinungen darüber, was und was nicht “Emo” ist, wie es vermeintliche Emoalben gibt. Die fundierteste, die mir untergekommen ist, beruft sich auf die Wurzeln der Emo-Musik im Punk und Post-Hardcore der späten 80er und frühen 90er-Jahre. Demnach ist Emo kurz für “emotive Hardcore”. Diese Spielart des Hardcore existiert bis heute. Die Ausläufer des Emo, die es in den Mainstream der 2000er geschafft haben, sind allerdings näher am alternative Rock als am Hardcore. My Chemical Romance, Fallout Boy, Thirty Seconds To Mars, Three Days Grace - all diese Bands eigneten sich einen mehr oder weniger großen Teil der Emo-Ästhetik an und feierten damit große Erfolge.
Als ein gewisses Duo aus Columbus Ohio 2009 ihr Debütalbum präsentierte, steuerte der Emo-Hypetrain bereits gefährlich schnell auf die Sackgasse der Belanglosigkeit zu. MCR zehrten immer noch von ihrem Übererfolg “The Black Parade” und auch bei den Genre-Kolleg:innen schien die Kreativität auf dem Trockendock zu liegen. Das selbstbetitelte Debüt von Twenty Øne Pilots nahm sich einige Emo-Einflüsse, die sich Fallout Boy und Co. bereits von den OG emotive Hardcore Bands geliehen hatten, und mischte sie mit Ausflügen in den Indierock, Pop und Rap. Richtig ausgeklügelt fand diese Mischung aber erst auf dem zweiten und sowohl von Fans als auch von der Presse hochgelobten Album “Vessel” statt. Ausgeklügelte Choreos und Bühnenoutfits (“Trees”), emotionale bis fast schon weinerliche Vocals (“Guns For Hands”), tiefgehende Lyrics mit Themen wie Depression, Ängsten und Einsamkeit (“Migraine”, “Car Radio”).
Twenty Øne Pilots schaffen es seit “Vessel”, all diese Einflüsse so einzigartig miteinander zu kombinieren, dass man sich schwer tut, ihre Musik irgendeinem Genre zuzuordnen. “Vessel” wechselt problemlos zwischen Ukulele-Rap (“House of Gold”) und Elektro-Dance Einlagen (“Car Radio”), “Blurryface” mischt pointierten Rap (“Lane Boy”) mit explosiven Beinahe-Shouts (“Goner”). Das narrativ wohl dichteste Album der Band, “Trench”, dreht sowohl die Heavyness (“Jumpsuit”) als auch die Eingägigkeit (“The Hype”) weiter nach oben. Mit “Scaled and Icy” erschien erst letztes Jahr der poppigste TØP-Release bis dato und brachte dabei Indie-Gitarren und eingängige Riffs mit.
Bei aller musikalischen Veränderung, die das Duo über die letzten 12 Jahre hingelegt hat - eine Konstante bleibt doch gegeben: Twenty Øne Pilots, ähnlich wie zu ihren Hochzeiten MCR und Thirty Seconds To Mars, sind ein Gesamtprodukt. Die Musik funktioniert nicht alleine, sie definiert sich in Verbindung mit den Fans, der Bühnenästhetik, der (Selbst-)Darstellung der Künstler:innen. Wenn also Juice Wrld, Lil Peep und Co. die Wiederbelebung und Hip-Hopifizierung des ursprünglichen Emo-Gedanken sind, sind dann Twenty Øne Pilots womöglich die geistigen Nachfolger der oben genannten Bands?
Kai Weingärtner
Kai studiert zur Zeit mehr oder weniger erfolgreich Politikwissenschaft und Anglistik in Osnabrück. Da man damit natürlich keinerlei Aussichten auf einen “vernünftigen” Job hat, ist er nun bei Album der Woche angeheuert um sich seine Zukunft als Taxifahrer etwas aufzulockern. Sein Musikgeschmack umfasst alles, was E-Gitarre und Schlagzeug hat oder anderweitig Krach macht.