Jahresrückblick 2022: Kai
28.12.2022 | Kai Weingärtner
Album des Jahres
Die Entscheidung in dieser Prestige-Kategorie fiel mir in diesem Jahr so einfach und zugleich so schwer wie noch nie. Denn 2022 hatte in Sachen neuer und spannender Musik einen ganz schönen Batzen zu bieten. Geniale Post-Punk-Platten wie “Skinty Fia” von Fontaines D.C., “Brennen” von Lyschko oder das selbstbetitelte Album der Nerven kämen in den Sinn, Rap-Monumente wie Kendricks “Mr. Morale and the Big Steppers” oder “Mann Beisst Hund” von OG Keemo, das nicht weniger als den Titel Meisterwerk verdient, Indie-Perlen wie Schmyts “Universum Regelt”. Außerdem sei das UK (mal wieder) als offenbar letzte kreative Instanz der Gitarrenmusik genannt, das dieses Jahr in Gestalt von Black Country, New Road, black midi und den grandios kratzigen Petrol Girls mindestens drei wahnsinnig tolle Alben parat hatte. Ach ja, und motherfriggin FJØRT haben mit “nichts” (called it, btw!) einfach mal ein absolutes Brett hingelegt!
Und trotzdem thront ein Album über ihnen allen. Ein Album, das mich so sehr erschüttert, so sehr berührt, so sehr geflasht hat, dass ich die vollen 10/10 Punkte vergeben habe (und tatsächlich damit durchgekommen bin, danke dafür Jakob!). Zeal and Ardor haben mich mit ihrem selbstbetitelten dritten Album kalt erwischt, und das, obwohl ich bereits in meinem letzten Jahresrückblick angekündigt hatte, wie sehr ich mich auf die Platte freue. “Zeal and Ardor” ist für mich ein perfektes Album, jede Ecke und jede Kante, jeder Ton, Akkord, Schrei und Gospelchor sind an exakt der richtigen Stelle. All of the feels!
Neuentdeckung des Jahres
Als ich im August die Zweitmeinung zur Rezension des neuen Pianos Become The Teeth Album “Drift” antrat, hatte ich keine Ahnung, wie hart ich auf dieser Platte hängen bleiben würde. Ich hatte von der Band aus Baltimore bis dato nie etwas gehört geschweige denn ihre Musik gekannt. Aber mit dem ersten Ausbruchs des C-Teils von “Genevieve” war es um mich geschehen. Was für ein großartiges Album! So viel Zerbrechlichkeit in ein Post-Hardcore-Album zu packen ist sonst eigentlich nur FJØRT vorbehalten. “Drift” schafft über seine zehn Songs hinweg eine dichte, atmosphärische und gnadenlos emotionale Stimmung und weiß sich (zum Glück) von sämtlichen unangenehmen Hardcore-Klischees fernzuhalten. Es gibt keine Hits, keine hörbaren Singles auf dieser Platte. Jeder Song steht wie selbstverständlich ausschließlich und maßgeschneidert im Dienst des Albums. Ich möchte bitte nur noch solche Alben haben.
Konzert des Jahres
Zum Zeitpunkt, an dem ich diesen Text schreibe, stehen in diesem Jahr noch mindestens zwei Konzerte aus, die ich 2022 noch besuchen werde. Bei einem davon handelt es sich um Enter Shikari in Groningen - eine Show, auf die ich mich nach mehreren abgesagten Shows in Amsterdam und Münster freue wie ein Kind auf Red Bull auf den anstehenden Freizeitparkbesuch. Theoretisch ist in dieser Kategorie also das letzte Wort noch nicht gefallen. Bis dahin liegt da aber ein gewisses Trio aus Schottland sehr weit vorne. Gleich zweimal durfte ich Biffy (Fuckin) Clyro in diesem Jahr live sehen, ebenfalls nach mehrfacher Verschiebung über zwei Jahre hinweg, dafür aber mit noch einem neuen Album im Gepäck. Das erste Mal mit vielen mir sehr lieben Menschen im Rahmen des Hamburger Stadtpark Open Airs, das zweite Mal zusammen mit meinem Bruder in der Düsseldorfer Mitsubishi Halle. Ersteres war trotz, blumig ausgedrückt, suboptimaler Location, fehlendem Support und, Gerlinde gesagt, beschissenem Publikum, ein super Abend. Einmal unter die anderen 20 Leute gekommen, die auch Lust auf Tanzen und Mitschreien hatten, konnten mir dann auch die restlichen Rumsteh-Gäste egal sein. Anders verhielt es sich da in Düsseldorf. Nicht nur gab es dort mit De Staat eine famose Supportband, das Publikum war auch durchweg zur kompletten Ekstase bereit. Biffy Clyro selbst waren auf beiden Shows gewohnt genial, spielten zwei sehr unterschiedliche Sets (immer schön, wenn eine Band auch innerhalb eines Tour-Zyklus' ein bisschen Abwechslung mitbringt) und kramten dabei sogar einige selten gehörte Perlen wie beispielsweise das grandiose “Victory Over The Sun” raus. Mehr konnte ich von der laut mir besten Band der Welt nicht erwarten.
Musikalischer Euphorie-Moment des Jahres
Dem in dieser Kategorie ausgezeichneten Song ist ein ganz besonderes Kunststück gelungen. In nicht mal 30 Sekunden schafft es dieses Stück Musik in mir ein komplettes Gefühlschaos anrichten. Die Rede ist vom ersten Einsatz des Refrains von “Chaos Space Marine”.
So I'm leaving this body
And I'm never coming homе again, yeah
I'll bury the axe here
Between the window and the kingdom of men
Zusammen mit der absolut epochalen musikalischen Untermalung liefern Black Country, New Road mir mit diesen Zeilen einen zuverlässigen Adrenalin-Kick, den ich selten so eng verknüpft mit einem Stück Musik empfunden habe. In einem Jahr mit weniger starker Konkurrenz wäre “Ants From Up There” mein Album des Jahres gewesen, so kann ich dem Album wenigstens in Form dieses ikonischen Moments Tribut zollen.
Enttäuschung des Jahres
Leider gab es auch in diesem Jahr ein paar Negativmomente in Sachen Musik. Mehrere Konzerte, auf die ich mich sehr gefreut hatte, wie die Shows der Nerven und Petrol Girls im Gleis 22 in Münster, wurden weit nach hinten verschoben oder ganz abgesagt. Kraftklub releasen ein uninspiriertes Indierock-Album, wunderschöne Aktionen wie das Cock am Ring Festival erhalten viel zu wenig Zulauf und Bands müssen Touren wegen zu wenig Vorverkauf absagen. Aber die größte Enttäuschung wird sich noch bis Sommer 2023 ziehen: Die Lineups der großen Festivals bleiben weiter größtenteils altbacken, konservativ, langweilig und viel zu männlich. Rock Am Ring bucht mit Pantera allen Ernstes eine Band, deren Sänger auf der Bühne gerne mal den Hitlergruß auspackt und die sich bei jeder Gelegenheit als knallharte Südstaatenpatrioten stilisieren. Good Job mit dem Rebranding, ihr Pfeifen!
Comeback des Jahres
Peter Fox is back! Mit “Zukunft Pink” meldet sich der Ausnahmekünstler mit der viel zu lang ersehnten Fortsetzung zu seiner Hit-Platte “Stadtaffe” zurück. Die Hoffnungen auf ein neues Album wurden auch schon mit der Ankündigung einer Headliner-Show auf dem Hurricane Festival 2023. Mein innerer 13-jähriger hat sich bereits die Affenmaske übergezogen, die Klamotten eingemottet und boxt sich nackt durch die Straßen Berlins.
AdW-Moment des Jahres
Hach, was gab’s in diesem Jahr nicht alles für schöne Momente mit diesem Magazin. Ich habe 2022 so viele Mitglieder von Album der Woche live und in Farbe zu Gesicht bekommen, und mein Team-Stickerheft ist jetzt tatsächlich voll. Zusammen haben wir uns zwei Tage in Hamburg beim Abriss der Woche und vorher selbst beweihräuchert, Jakob ist extra für einen Dokumentarfilm über Karlheinz Stockhausen zu mir nach Osnabrück gepilgert und ich war tatsächlich gleich zweimal zu Besuch bei meinem Podcast-Kollegen Moritz in Berlin. Neben einer in-Persona-Podcastaufnahme und einem Besuch bei den die Ärzte in der Spandauer Zitadelle kam dabei auch ein Konzertbesuch bei der AdW-Hausband und OG 10/10 Kora Winter zustande. An dem konnte Moritz zwar wegen Verpflichtungen in der Regierungsarbeit (nehm’ ich ihm immernoch übel) leider nicht teilnehmen, aber Jakob, Steffen und ich haben uns beim Konzert im Cassiopeia anderthalb Stunden lang die Köpfe eingeschlagen und “BITTER”-Lyrics durch die Gegend gespuckt. 10/10 bleibt absolut verdient, und dann haben die auch noch “Coriolis” gespielt. Absoluter Wahnsinn!
Kai Weingärtner
Kai studiert zur Zeit mehr oder weniger erfolgreich Politikwissenschaft und Anglistik in Osnabrück. Da man damit natürlich keinerlei Aussichten auf einen “vernünftigen” Job hat, ist er nun bei Album der Woche angeheuert um sich seine Zukunft als Taxifahrer etwas aufzulockern. Sein Musikgeschmack umfasst alles, was E-Gitarre und Schlagzeug hat oder anderweitig Krach macht.