Jahresrückblick 2024: Frank
25.12.2024 | Frank Diedrichs
Will gar nicht viel Worte hier verlieren - lest selbst, was so los war.
Album des Jahres: Kettcar, äh, doch Kapelle Petra, nein, stopp, The Cure oder...
Diese Kategorie fällt mir immer total schwer. Da kommt im April Kettcar mit "Gute Laune, ungerecht verteilt" um die Ecke. Und wird zu diesem Zeitpunkt das Album des Jahres. Unschwer nachzulesen in meiner meta-euphorischen Review dieses literarischen Meisterwerkes. Aber davor gab es ja noch das Album "Hamm" von Kapelle Petra, dieses wunderschöne Stück Melancholie der Generation X. FLOMB mit "Frank bleibt Frank" rückte in den Fokus der Titelaspiranten, und das hat nun gar nichts damit zu tun, dass das Album meinen Namen im Titel hat. Und dann müssen The Cure mit "Songs For A Lost World" ja dieses MEGA Album herausbringen. Puh, Smile And Burn mit "Seid ihr stolz auf mich?" war ja auch noch da...
Aber dann las ich im Ox#176 das Interview mit 24/7 Diva Heaven über Gleichberechtigung, ihre FLINTA*-Konzerte mit Team Scheisse und natürlich über ihr neues Album "Gift". Hatten wir als Plattensprung-Crew das Album gar nicht auf dem Schirm? Auf jeden Fall reingehört. Die aggressive Mischung aus Punk, Hardcore und Noise-Rock erzeugt eine chaotische Klanglandschaft, die von rebellischem Gesang begleitet wird. Die Texte hinterfragen Machtstrukturen, gesellschaftliche Missstände und hinterfragen Werte und Normen. Da habe ich am Ende durch Zufall doch noch mein Album des Jahres gefunden.
Song des Jahres: ein Schlaflied
Es mag ein bisschen schräg anmuten, dass ich einen Song gewählt habe, dessen Veröffentlichung die meisten nicht wahrgenommen haben. Natürlich, könnte ich an dieser Stelle viele Songs nennen, die mich dieses Jahr bewegt haben. Viele sind aber auch stark mit Emotionen verbunden und je nach emotionaler Beschaffenheit sind es andere Songs, die gerade wichtig sind. So gibt es eher "Songs des Moments" statt "Songs des Jahres". Aber ein Lied, ein instrumentales Stück, ist für mich ein wichtiger Anker geworden. "The Shire" von Elden Tales ist der Beginn der "LOTR-Sleep"-Playlist, die mich beim Einschlafen begleitet. Die Umsetzung des Hobbit-Themes aus "Herr der Ringe", arrangiert für das Piano, bringt mich runter, sorgt dafür, dass ich mit viel weniger Mühe einschlafe. Und das ist für mich als Mensch, der unter dem subjektiven Gefühl leidet, ständig gehetzt zu sein, immens wichtig geworden.
Konzerte des Jahres: Kettcar und My Ugly Clementine
Tja, wer meinen Konzertbericht zum Kettcar-Konzert (siehe unten) gelesen hat, der wird meine Wahl zum Konzert des Jahres nachvollziehen können. Deswegen werde ich dem nichts hinzufügen. Ich möchte aber noch ein weiteres Highlight hervorheben. Am 16. Februar spielten My Ugly Clementine im Bremer Lagerhaus. Neben einer starken Location und hervorragender Musik war es das erste Konzert war, welches ich und unsere Tochter bewusst ausgesucht und besucht habe. Wir haben in My Ugly Clementine eine überraschende, musikalische Schnittmenge gefunden und einen sehr schönen Abend verbracht, inklusive des Besuches des Merch-Standes, an dem wir beide fündig wurden. Und dass alles macht dieses Konzert zu etwas Besonderem.
- auch stark: Adam Angst im Bremer Kulturzentrum Schlachthof
Entdeckung des Jahres: Fatoni
In unserem Landkreis findet in Diepholz seit Jahren das AppleTree-Festival statt. Ein Freund besucht dieses Indie-Event regelmäßig und erzählt bereits immer im Vorfeld von Bands, die ihn dort erwarten. Meistens sind diese für mich nicht zwingend interessant. Das änderte sich, als er mir von Fatoni berichtete. Er empfahl mir sehr nachdrücklich diesen Rapper, da er der festen Überzeugung war, dass die Texte und der Sound mich packen würden. Und was soll ich sagen? Die gesellschafts-, kapitalismus- und sozialkritischen Texte trafen meinen Nerv, und auch der Rap sagte mir zu. Ich bin sowieso der Meinung, dass Rap und Punk viel mehr gemeinsam haben, als die Genre-Polizei zugeben würde. Mensch möge sich die Alben der Antilopen Gang anhören. Und so lief das Album "Wunderbare Welt" immer wieder und ich begann, mich rückwärts durch die Diskografie zu hören. An dieser Stelle möge mir das Plattensprung-Team verzeihen, dass ich Steffens Review übersehen habe. Ich hätte Fatoni schon viel früher entdecken können.
Soundtrack des Jahres: Konstantin Gropper/Ziggy Has Ardeur und"Achtsam morden"
Ich bin vieles, aber ein Serienjunkie bin ich nicht. Ausnahmen bildet alles, was mit Star Wars oder Marvel in Verbindung steht. Deswegen bin ich auch sehr skeptisch, wenn ich Serienempfehlungen bekomme. Als ich den Hinweis bekam, ich solle doch mal in "Achtsam morden" hineinschauen, reizte mich in der Beschreibung auch eher der Hinweis auf die Wichtigkeit von Achtsamkeit, weil ich für mich selber im Sinne persönlicher Resilienz achtsamer sein müsste. Überraschenderweise fand ich die Verknüpfung komödiantischer Krimi-Elemente mit Phasen eines Achtsamkeitstraining total faszinierend. Die größte Faszination übte aber der Soundtrack der Komponisten Konstantin Gropper und Ziggy Has Ardeur. Gropper dürfte den meisten durch seine Band Get Well Soon bekannt sein. Der Soundtrack fängt jede Situation, jede Szene und jede Stimmung perfekt ein. Er wirkt atmosphärisch, bedient verschiedene Genres von Easy Listening, über Pop und Elektronik hin zu Jazz und funktioniert auch ohne das Schauen der Serie.
Songzeile des Jahres: Kapelle Petra und "Es war nicht alles schlecht"
Ich mag diese Zeile. Ein Abgesang an alle, die als ewig Gestrige an ihrer doch so glorreichen Vergangenheit festhalten. Aber sind wir mal ehrlich... Es ist meine Generation X, die es nicht verhindert hat, dass patriarchale Machtstrukturen, Ungleichberechtigung, radikale Klimaveränderungen, Kapitalismus, Neoliberalismus, Fremdenhass, Nationalismus und vieles mehr ihren Weg ins 21. Jahrhundert gefunden haben. All dies ist keine Erfindung des Jetzt, sondern war in unterschiedlicher Ausprägung auch in vielen Biografien meiner Generation vorhanden. Leider vergessen wir das häufig in unserem "Früher war alles besser". Vieles mag anders gewesen sein, aber davon war auch sehr vieles echt übel. Kapelle Petra ruft das meiner Generation mehr als deutlich zu.
"Es war nicht alles schlecht früher, nein, nein,
im Gegenteil, das meiste ist es immer noch"
Musikbuch und Horizonterweiterung des Jahres: These Rebel Girls
Das Buch "These Rebel Girls" (hrsg. von Juliane Streich) hat mich nicht nur neuen Flinta-Menschen nähergebracht, sondern eine nie gekannte Vielfalt hielt in meine, wie mir schmerzlich bewusst wurde, männlich dominierten Hörgewohnheiten Einzug. Vielfältige Menschen aus unterschiedlichen künstlerischen Bereichen nähern sich Musiker:innen von Edith Piaff bis Campe Cope und stellen in diesem "Streifzug durch die feministische Musikgeschichte" deren wichtigen Beitrag für Selbstermächtigung und Gleichberechtigung dar. Die kurzen Essays waren so lesenswert, dass ich mich auf die Fortsetzung freue. Auf Spotify gibt es eine passende Playlist zum Buch, die mit weit über 250 Songs die begleitende Playlist liefert. Nie habe ich in so kurzer Zeit so viel neue und faszinierende Musik und Musikerinnen kennen lernen dürfen.
Plattensprung-Moment: Interviews mit KMPFSPRT und Fort37
Das Interview mit KMPFSPRT im April des Jahres soll stellvertretend für die Momente stehen, die bei mir eine Anspannung hervorrufen, die völlig ambivalent ist. Zum einen bin ich total aufgeregt, habe Angst die falschen oder doofe Fragen zu stellen, den Faden zu verlieren oder nicht ausgiebig recherchiert zu haben. Auf der anderen Seite sitze ich am heimischen Schreibtisch und habe tatsächlich Bands und Künstler:innen vor mir, die in den Interviewsituationen Menschen sind, und mir dadurch ganz viel Nervosität nehmen, sodass ich am Ende das Interview wirklich genießen kann. Im nächsten Plattensprung-Jahr möchte ich mich in weitere Interviews trauen, auch wenn der Gedanke in meinem Bauch dunkle, grummelnde Gewitterwolken hervorruft. Aber vielleicht stellt sich irgendwann eine Routine ein? Wer weiß...
Weitere Plattensprung-Momente:
- Team-Treffen in Halle mit Konzert von Molly Punch und Stadt-Land-Fluss,
- endlich meine Kolumne gefunden,
- aus AdW wird Plattensprung und
- die Podcats.
Übelkeit hervorrufendes Ereignis des Jahres: Dieser Sänger von dieser Band mit den Tätern
Ich mach es kurz: Meiner Clique hat der Song "Entre Dos Tierras" der spanischen Band Héroes del Silencio viele wunderbare Tanzmomente im Jugendzentrum Scheune beschert. Und dass dieser T.L. der Band R. diesen Song covern muss, um allen Frauen, denen er sexualisierte Gewalt angetan hat, höhnisch ins Gesicht zu lachen, ist abgrundtief widerlich. Nie wieder kann ich das Original mit dem Enthusiasmus wie früher hören. Danke T.L.!
Musikalisches Eigentor des Jahres: Meine Replay-Playlist 2024
Ich liebe es, am Ende des Jahres meine Replay-Liste aufzurufen, um zu schauen, welche Bands und Musiker:innen habe ich besonders oft gehört? Welches war der Song, der in Dauerschleife lief? Und welches Album rotierte ewig aus den Boxen. Als ich gespannt die Replay-Liste generieren ließ und auf die aufploppenden Kacheln blickte, verschlug es mir die Sprache und anschließend schlug meine Hand vor die Stirn. Ich habe Mitte des Jahres begonnen, eine ganz bestimmte Playlist zum Einschlafen zu hören. Diese nennt sich "LOTR - Sleep". Und was soll ich sagen, einzelne Songs, Künstler:innen und Alben dominierten meine Replay-Liste. Nur vereinzelnd tauchten andere Songs oder Künstler:innen auf, sodass mein Replay-Fazit nur lauten kann: Ich scheine sehr viel und lange geschlafen zu haben. Wenigstens steht ein Kettcar ganz oben...
Und zu guter Letzt... mein Zitat des Jahres
Chancen sind wie Sonnenaufgänge. Wer zu lange wartet, verpasst sie.
(Joan Lunden, Schriftstellerin)
Frank Diedrichs
Frank lebt seit über zwanzig Jahren in der Mitte Niedersachsens und unterrichtet Kinder und Jugendliche an einer Oberschule. Nach seiner musikalischen Erstprägung durch die Toten Hosen und Abstürzenden Brieftauben erweiterte er seine Hörgewohnheiten: Folkpunk, Singer-/Songwriter, Blues, Deutschpunk, US-/UK-Punk. Dabei kommt von Johnny Cash über The Beatles und Pascow bis hin zu Marvin Gaye eine Menge Vielfalt aus den Boxen, am liebsten als Vinyl.