Jahresrückblick 2024: Kai
28.12.2024 | Kai Weingärtner
2024 war – in jedweder Hinsicht – ein wildes Jahr. Ich habe einerseits einen unglaublich angenehmen Job mit extrem lieben Leuten, für die ich super dankbar bin, habe wahnsinnig tolle Orte bereist und ganz viele schöne Erinnerungen mitgenommen. Andererseits war es in meinem anderen Job dann aber auch wirklich stressig dieses Jahr und auch im privaten Umfeld ging es teils eher drunter als drüber. Und dann gab es natürlich noch all die Entwicklungen, Gedanken und Mühen, die über das Jahr hinweg in das Projekt Plattensprung geflossen sind, die sich jetzt gerade auszuzahlen beginnen und auf die ich nach wie vor enorm stolz bin. Wie immer war bei all dem eine Konstante immer dabei, die Musik (wow, pathetisch Kai, reiß dich mal zusammen). Ein paar dieser Momente habe ich im Folgenden versucht festzuhalten.
Honorable Mention
Als ich mir die Namen und Titel der Alben und Künstler:innen aufgeschrieben habe, die mich in 2024 begeistert haben, wollten sich ein paar nicht so recht in meine zuvor festgelegten Kategorien pressen lassen. Fast so, als ob Kunst (und vielleicht gerade die Kunst dieser Menschen) sich nur sehr widerspenstig in sorgfältig zusammengestellten Schubladen bewegt. Zwei Namen, die mein Musikjahr maßgeblich mitgeprägt haben, möchte ich in diesem Joker-Segment kurz bejubeln. Die beiden Australier Genesis Owusu und Kirin J. Callinan ploppten schon Ende 2023 auf meinem Radar auf, nachdem sowohl das Album “Struggler” (Genesis Owusu) als auch die erste Single “Young Drunk Driver” von Kirin J. Callinan in Anthony Fantano’s Jahresendlisten Erwähnung fanden. Ich kramte die beiden Artists daraufhin immer wieder aus meinem virtuellen Plattenregal und bin immer noch hellauf begeistert von der überbordenden Kreativität und schieren Spielfreude, die diese beiden weirden Typen an den Tag legen. Beide fanden auch ihren Weg auf meine must-see-Liste für das Konzertjahr 2025.
Rookie of the Year
Jedes Jahr wagen zahlreiche junge Künstler:innen den Sprung und bringen ihr allererstes Album heraus. Und auch wenn es sicherlich aus aufmerksamkeits-ökonomischer Sicht mehr Sinn ergibt, Songs Stück für Stück zu releasen, um sich stetig eine Fanbase aufzubauen, übertrifft doch nichts die Art von Schockwelle, die ein richtig gutes Debütalbum loszutreten vermag. Diese Schockwelle kam für mich in diesem Jahr am 2. Februar von der britischen Band The Last Dinner Party. Das letzt Mal, dass ich von einem Debütalbum so weggepustet wurde, muss Van Holzen’s “Anomalie” gewesen sein. The Last Dinner Party wissen ganz genau, wer sie sind, was sie können (und das ist ne ganze Menge) und wie sie klingen wollen. “Prelude to Ecstasy” impliziert die Existenz der tatsächlichen Ekstase, und wenn die erst noch kommt, bin ich gespannt wie ein beim Entchenangeln gewonnener Flitzebogen, was diese Band uns in den nächsten Jahren noch um die Ohren hauen wird.
Neuentdeckung des Jahres
Man kann von Spotify & Co. ja halten was man will (ausbeuterische, halsabschneiderische Geschwüre des alles auffressenden Finanzbro-Kapitalismus, die Künstler:innen mit einer Hand an der Gurgel und der anderen in der Tasche die Kreativität aussaugen und derweil den Hörenden eine pastellfarbene Wohlfühloase in Form von individualitätsheischenden “guck-mal-was-wir-zusammen-erlebt-haben”-Kacheln vorheucheln), aber ab und zu landet diese fiese grüne App bei mir einfach einen Curveball-Homerun von so weit außerhalb des Stadions, dass ich nicht mal wusste, dass ich das gerade brauchen würde. So verhielt es sich auch mit meiner Neuentdeckung des Jahres. Irgendwann im Frühsommer landete ein Track namens “Nausia” in meinem Mix der Woche, und ich war von der ersten bis zur letzten Minute verzaubert. Delachute heißt der Künstler, auf den dieses Meisterstück der melancholischen Gedankenverarbeitung zurückgeht. Ich weiß nichts über diese Person, außer dass sie aus Montreal kommt, eine weiße Maske trägt und scheinbar in einer Welt der immerwährenden Sepiatöne lebt. Sehnsüchtig habe ich den Release des Debütalbums “Canal” erwartet, und es enttäuschte nicht. Zehn Songs, die so einfühlsam wie eingängig sind, auf denen sich Delachute sanft säuselnd aus seiner scheinbaren Sinnkrise herauszusingen versucht. Ein wunderbar poetisches Album, dessen Ausläufer mich völlig ohne Promo und Vorwissen kalt erwischt haben.
Slowburner des Jahres
Mit die größte Vorfreude auf ein Album empfand ich in diesem Jahr für das im August erschienene Album “Romance” der irischen Kritiklieblinge Fontaines D.C.. Der Hype um diese mittlerweile zur Lieblingsband deiner Lieblingsbands avancierten Überflieger ging mit dem Release der ersten Single “Starburster” in einen rasanten Steigflug, der bisher nicht abreißt. Auch meine Vorfreude war wie erwähnt riesig, bei Release unterwältigte mich “Romance” aber zunächst. Auch wenn ich die Vorab-Singles, allen voran “Starburster” und das ansteckend euphorische “Here’s The Thing” immer noch großartig fand, ließ mich der sehr atmosphärische und sich nur langsam entfaltende Rest der Platte anfänglich eher kalt. In dem Wissen, dass dies auch bereits bei früheren Veröffentlichungen der Dubliner so war, blieb ich jedoch am Ball – erst aus purer Sturheit und später dann aus hypnotischer Faszination. Denn die dichte Atmosphäre und das Gesamterlebnis, das “Romance” aufmacht, lassen mich bis heute nicht mehr los. Spätestens mit dem Besuch ihres Tourstopps in Köln war es dann vollends um mich geschehen. An dieser Stelle sei noch auf den Release des GROSSARTIGEN Indie-Films “Bird” hingewiesen, der Anfang des kommenden Jahres in die Kinos schlüpfen und euer Leben verändern wird! Fontaines D.C. haben zum Soundtrack von Andrea Arnold’s Film einige Songs beigesteuert und neben anderen Künstler:innen hat Gitarrist Carlos O’Connell auch einen kleinen Cameo. Einen Vorgeschmack auf den Film gibt es bereits im Musikvideo zum Song “Bug” zu sehen. Dringende Empfehlung!
Soundtrack des Jahres
Neben ganz viel Musik habe ich auch 2024 wieder ne ganze Menge Filme auf der mehr oder weniger großen mehr-oder-weniger-Leinwand sehen dürfen, und da ist auch in Sachen Filmmusik wieder ein bisschen was zusammen gekommen, das mich in diesem Jahr aus den Socken gehauen hat. Andrea Arnold’s “Bird” habe ich ja gerade schon erwähnt, und auch wenn die Songs von Artists wie Fontaines D.C. oder Sleaford Mods den Film für mich zu einem der prägendsten Momente des Jahres gemacht haben, gab es ein paar Soundtracks, die mich noch etwas mehr gekickt haben. Da wäre zum Beispiel die Indie-Hall-of-Fame, die sich für den Soundtrack zu Jane Schoenbrun’s “I Saw the TV Glow” zusammengefunden hat, und der ich hier bereits einen ganzen Artikel gewidmet habe. Vielleicht am meisten berührt hat mich aber die zwischen introspektiv und explosiv pendelnde Mischung aus klassischer Musik und Techno, die das musikalische Fundament des Films “The Outrun” der deutschen Regisseurin Nora Fingscheidt bildet. Die expressiven Klänge gepaart mit den verzaubernden Bildern der schottischen Orkney Inseln haben mich in diesem Jahr mehr als einmal kalt erwischt.
Enttäuschung des Jahres
2022 habe ich meine erste und bis dato einzige 10 von 10 an das selbstbetitelte Album der schweizer Avantgarde-Metaller Zeal & Ardor vergeben. In diesem Jahr brachte die Gruppe um Manuel Gagneaux ein neues Album raus, und auch wenn ich auch diesem wieder eine Menge abgewinnen konnte – vor allem die neu eingeschlagenen Richtungen rechtfertigen auch jetzt noch einen Großteil der Wertung, die ich der Platte letztlich gegeben habe – fehlt es mir bei “GREIF” dann doch ein wenig an der brachialen Härte und der dadurch unausweichlichen Emotionalität, die die Vorgänger mitbrachten. Eine kleine Enttäuschung ist es also dann irgendwie doch. Die viel größeren erwarteten mich aber dieses Jahr im Live-Kontext. Erstens: Die Zugabe muss endlich sterben! Ich habe keine Lust mehr, mir von Künstler:innen sagen zu lassen, dass das jetzt ihr “letzter Song” sei, nur um sich dann minutenlang zu einer Zugabe bitten zu lassen, in der sie dann 2 der 3 größten Hits spielen (welch Überraschung!). Wer verarscht hier eigentlich wen? Wenn ihr kurz von der Bühne gehen wollt, um Energie zu sammeln oder warum auch immer, dann kommuniziert das doch einfach so. So, nachdem ich diesen doch sehr persönlichen Groll einmal niedergeschrieben habe, komme ich nun zu einem tatsächlichen Problem, von dem ich weiß, dass es nicht nur mir schon mehr als einen Konzertabend versaut hat: Männers, ich weiß ihr seid alle extrem stark und total emotional aufgeladen, aber bitte gebt doch euer Überschuss-Testosteron einfach an der Garderobe ab, damit erspart ihr uns allen einiges. Niemand braucht eure Ellbogen in den Rippen als Beweis eurer Männlichkeit. Und lasst um Himmels Willen eure bekackten Shirts an!
Konzert des Jahres
Eine passendere Überleitung hätte ich mir zu dieser Kategorie nicht bauen können, denn alle meine Lieblingsshows dieses Jahres waren vor allem auch davon geprägt, dass das Publikum angenehm war. Achtsames ausrasten, miteinander statt gegeneinander pogen und eine offenkundige Liebe aller Anwesenden der Menschen auf der Bühne gegenüber. Über das unangefochtene Comeback des Jahres sprechen Moritz, Merten und ich in unserer Jahresrückblicks-Podcastfolge bereits ausgiebig, daher hier nur so viel: Die beiden Heisskalt-Shows in Hannover und Köln, denen ich in diesem Jahr beiwohnen durfte, wären in vermutlich jedem anderen Jahr ganz oben auf diesem Ranking gelandet. So viele neue und alte Bekannte, die ich auf diesen Konzerten treffen durfte, so viel freudige Energie und eine Band, die sich in Sachen Energie und Haltung angefühlt hat, als wäre sie sechs Wochen statt sechs Jahren weg gewesen. Und trotzdem war da ein Konzert, dass selbst das alles in den Schatten gestellt hat. Habt ihr schonmal zwei Typen dabei zugeschaut, wie sie einen Serverschrank verkabeln, während ein dritter versucht, sich über den hirnverdrehenden Lärm hinweg mit seinen gerappten Horrorgeschichten Gehör zu verschaffen? So ungefähr hat sich meine erste Live-Begegnung mit clipping. angefühlt, und auch wenn das für euch vielleicht gar nicht so erstrebenswert klingt, ich war over the moon. Mehrere Jahre habe ich auf die Möglichkeit gewartet, diese Band live zu sehen, und es war jede Sekunde wert.
Album des Jahres
Und nun zum Hauptpreis. Releasetechnisch hat 2024 für mich eher schleppend begonnen. Gleich zu Anfang kam OG Keemo’s “Fieber”, das mich allerdings bei weitem nicht so sehr fesseln konnte wie noch “Mann Beisst Hund”, was aber vor dem Hintergrund, dass es sich um ein Mixtape und kein Album im klassischen Sinne handelt, erwartbar und somit irgendwie okay war. Meinen Spaß hatte ich trotzdem mit Keemo’s eigenwilligem Style. Auch im Januar erschien Kirin J. Callinan’s Album “If I Could Sing”, das nach anfänglicher (zugegebenermaßen durchaus überschwänglicher) Begeisterung meinerseits seinen Zauber über das Jahr hinweg zunehmend verlor (auch wenn ich es immer noch sehr mag). Der erste wirkliche Lichtblick des Jahres folgte einen Monat später mit dem bereits erwähnten “A Prelude To Ecstasy” von The Last Dinner Party und den Platten von Idles und Blackout Problems, die allerdings beide auch nur sporadische Gefühlsausbrüche hervorriefen. Richtig umgehauen hat mich dann eigentlich erst St. Vincent mit “All Born Screaming”, das bis vor ein paar Monaten noch ganz weit oben in meinem imaginären MVP-Voting grassierte. Annie Clarks Gitarrenspiel ist nach wie vor gleichzeitig virtuos und immer zu 100% songdienlich und ihre Texte und vor allem die Vocals sind auch nach dem xten Durchlaufen der Platte zum Dahinschmelzen. Es sollte aber ein Album kommen, dass dem filigranen, sorgfältig zusammenkomponierten Art-Rock von St. Vincent mit emotionaler Brachialität und schierem Chaos den Rang nochmal ablaufen sollte. Xiu Xiu waren schon seit ein paar Jahren immer mal wieder auf meinem musikalischen Radar, ich hatte aber nie wirklich die Muße mich intensiver mit dieser doch relativ unzugänglichen Musik auseinanderzusetzen. Also nahm ich den ausstehenden Release des Albums mit dem grandios absurden Titel “13” Frank Beltrame Italian Stiletto with Bison Horn Grips” zum Anlass, das nachzuholen. Und meine Güte, hat mich dieses Album umgehauen. Jamie Stewart singt wahlweise wie von allen guten Geistern verlassen oder von bodenloser Trauer fest gepackt, die Drums sind mal robotisch und verkühlt und andernorts dann wahnsinnig düster und durchdringend und die Produktion schleudert einem hier einen Low-Fi-Banger nach dem anderen entgegen. Ein absolutes Monstrum von einem Album und ein Tanz auf den zum zerreißen gestpannten Drahtseilnerven der Protagonist:innen.
Kai Weingärtner
Kai studiert zur Zeit mehr oder weniger erfolgreich Politikwissenschaft und Anglistik in Osnabrück. Da man damit natürlich keinerlei Aussichten auf einen “vernünftigen” Job hat, ist er nun bei Album der Woche angeheuert um sich seine Zukunft als Taxifahrer etwas aufzulockern. Sein Musikgeschmack umfasst alles, was E-Gitarre und Schlagzeug hat oder anderweitig Krach macht.