Casey und "How to Disappear": Boys do cry
08.01.2024 | Dave Mante
Niemals hätte irgendjemand damit gerechnet, dass mal wieder über ein neues Album der Melodic-Hardcore-Größen Casey geredet wird und wenn doch, dann nur in den feuchten Träumen einiger utopiegeblendeten Hardcore-Fans. Nun ja, es ist 2024 und ihr lest eine Rezension zu „How to Disappear“ von Casey und für viele von euch mag das jetzt nicht so überkrass sein, für manch anderen (den Autor dieser Review eingeschlossen) aber schon!
Mit „Atone“ und „Great Grief“ verkündeten die Waliser ihr Comeback und vielen war da noch nicht klar, dass das Album bereits so schnell in den Regalen stehen sollte. Nun ist es da und wirkt wie ein kleiner Traum. Die Skepsis ist dabei groß, denn ihr restliches Schaffen ist ein Paradebeispiel für das weiterhin nischige Genre des Melodic-Hardcore. Nehmen wir mal eines vorweg, Casey haben sich verändert, wie sie es auch in ihrem Newsletter immer mal wieder verlauten ließen, jedoch ist „How to Disappear“ ein grandioses Stück Musik, welches persönliche Entwicklung und einen Reifeprozess zeigt.
„Unique Lights“ ist dabei direkt ein Song ohne Geschrei. Er kommt sehr pompös daher und spricht über die vergangene Zeit. Dabei ist mit der Zeile „I need you to know, that i‘m happier now“ bereits viel gesagt, was auch dieses Album textlich ausmacht. Natürlich handeln die Texte auch weiterhin von Verlust, Angst, Depression und Melancholie, jedoch sehr viel erwachsener, reflektierter und sehr viel weniger Tumblr-esk. Das kann nun kritisiert werden, aber kindisch-traurige Texte gibt es im Genre durchaus genug. Zurück zur Musik. Casey schrauben ihre harte und raue Seite ein ganz großes Stück zurück, und während „Great Grief“ damals sehr gewöhnungsbedürftig war, schafft es dieses Album direkt zu packen und geht mit diesem Umstand um einiges besser um bzw. lässt damit besser umgehen, denn es kommt nicht so unerwartet, dass weniger geschrien wird. Stellt euch die Umstellung einfach so vor wie bei der deutschen Band Chiefland, nur das hier eben noch rumgebrüllt wird, allerdings akzentuierter und ziemlich eindrücklich. Es lässt sich nicht mal ein gutes Song-Beispiel nennen, weil jeder einzelne genau das ist. Während „I Was Happy When You Died“ zeigt, dass es reicht, nur einmal kurz in einem Song rumzubrüllen, ist der darauf folgende Track „Sanctimonious“ von der Frequenz her wieder wie früher, fühlt sich aber absolut nicht so an, denn weiterhin überwiegt das sphärisch ruhige Spiel im Hintergrund und so ist dieses Album in seiner Gesamtheit, selbst in den nostalgischen Momenten, in welchen Casey 2024 sich anhören wie Casey 2016, wirkt das alles sehr frisch, neu und reifer. Das zeigt der Song „Those That I‘m Survived By“ sehr gut. Immer wieder bereitet er sich instrumental darauf vor, eine Schrei-Passage einzubauen. Welche dann gegen Ende auch kommt, zuerst als zweite Stimme im Hintergrund und danach sogar in Gänze, jedoch keineswegs überhart, sondern der melancholischen Stimmung des Songs angepasst. Also nicht drückend-aggressiv, sondern eher traurig-wütend. Nun könnten hier immer mehr Highlights aufgezählt werden. „Puncture Wounds To Heaven“ ist der Song, den Being as an Ocean seit Jahren mal wieder schreiben wollen, es aber nicht schaffen. „For Katie“ ist ein meisterlich trauriges Opus, welches wie kein zweiter Track mit Verlust umgeht. Und der Titeltrack „How to Disappear“ als letzter Song und über fünf Minuten Länge ist das Tüpfelchen, welches alle bereits besprochenen Stärken verbindet.
Ich bin noch immer sprachlos. Darüber, dass ich gerade die Rezension für ein neues Casey-Album geschrieben habe. Darüber, dass dieses Album auch noch großartig, eventuell sogar das beste der Band ist. Darüber, wie sehr eine Band sich anscheinend persönlich verändern kann und trotzdem ein dermaßen altbekanntes Gefühl auslösen kann. Ich bin sprachlos über „How to Disappear“ von Casey und ich wusste ganz tief in mir, dass ich dieses Album haben wollte, aber nicht, wie sehr ich es am Ende brauchte.
Wertung
Casey machen „How to Disappear“ zu einem Album des Wandels. Ihres Stils, der Thematiken und vor allem ihrer Selbst. Erwachsener, ruhiger und bewusster gehen die Waliser an das Genre heran und bringen uns eines der besten Melodic-Hardcore-Alben aller Zeiten. An einer Stelle ein fast positiver Text über eigene Entwicklung, an anderer eine altbekannte Schreitirade, welche jedoch wie auch immer in diese neue Art und Weise von Casey passt und dazu immer wieder absolut herausragende Zusammenspiele genau dieser Punkte. Ich könnte noch so viel mehr über dieses großartige Album schreiben, aber hört es euch doch einfach mal selbst an!
Dave Mante
Aufgewachsen zwischen Rosenstolz und den Beatles hört sich Dave mittlerweile durch die halbe Musikwelt, egal ob brettharter Hardcore, rotziger Deutschpunk, emotionaler Indie oder ungewöhnlicher Hip Hop, irgendwas findet sich immer in seinen Playlisten. Nebenbei studiert er Kunstgeschichte, schlägt sich die Nächte als Barkeeper um die Ohren oder verflucht Lightroom, wenn er das gerade fotografierte Konzert aufarbeitet.