Casey und „Where I Go When I Am Sleeping“: Weinen und Tränen trocknen
11.03.2018 | Moritz Zelkowicz
Schon das Intro „Making Weight“ macht die sanftere Gangart des zweiten Albums nach „Love Is Not Enough“ eindeutig klar. Komplett clean gesungene zwei Minuten, nicht typisch Casey? Eigentlich doch, denn schon in der kleinen, dreiteiligen Single „Fade“ zeigte Tom Weaver seine gesangliche Qualität außerhalb von Shouts. Trotzdem klingen Casey auf ihrer Sophomore-Platte so anders als noch auf dem hochgelobten Debüt. Sie probieren sich mehr aus und setzen bei der Intonierung weniger auf Klänge der Verzweiflung als vielmehr der Trauer und stillen Resignation. Statt es einfach rauszubrüllen, haucht Tom die Zeilen beinahe ins Mikrofon. Aber auch das zieht sich nicht durch die komplette Platte. Bei „Flowers By The Bed“ kann einem die Kinnlade offen stehen bleiben, denn das ist nicht weniger als ein durchweg fantastischer Emo-Song wie aus den frühen bis mittleren 2000ern.
Aber natürlich gibt es auch Stücke, die zumindest teilweise an „Love Is Not Enough“ anknüpfen. „Wavering“ ist so einer, fast. Die Shouts überwiegen in der Dauer des Songs, allerdings ist der Refrain wieder clean. Ist das ein Aber? Absolut nicht, diese Kombination hätte vielleicht auch so manchem Track auf dem Vorgänger gutgetan. Man kann auf jeden Fall darüber streiten, ob es einer Band in die Karten spielt, gleich auf dem zweiten Album eine solch gravierende Änderung im Sound vorzunehmen. Man kann diese Tatsache aber auch als logische Konsequenz verstehen, wenn der Sänger und Songwriter plötzlich mit einer Glasknochenkrankheitsdiagnose, einer chronischen Darmkrankheit und manischen Depressionen leben muss.
Dieses Album bietet nicht die klassischen Herz-Schmerz-Rühr-Meine-Seele-An-Stories, die einen etwas berühren. Die Songs haben echte Tiefe. So bietet beispielsweise „Funeral“ eine Atmosphäre, die wirkt, als wäre der Song nicht einfach so geschrieben, sondern als wäre er für dich geschrieben. Eine, wenn nicht sogar, die Stärke von Casey. Durchzogen ist das Album desweiteren auch von mehreren instrumental fantastischen Interludes. Zwar klingt „Morphine“ ein wenig wie von Being As An Ocean geklaut, aber deswegen passt der Song nicht minder gut in das Album hinein. Das der Platte seinen Namen verleihende Interlude, das das Grande Finale der Emotionalität einleitet, ist aber definitiv der Höhepunkt der Platte. „Where I Go When I Am Sleeping“ bietet nämlich dem Schlagzeuger die Aufmerksamkeit, die er verdient.
Was darauf folgt geht unter die Haut und vermag genauso zu begeistern wie zu verstören. Tom erzählt die wahrscheinlich intimste Geschichte, die sein Leben hergibt. Die Geschichte seines Suizidversuches mit 16 Jahren hatte er auf dem Vorgängeralbum im Song „Cavities“ schon angerissen. Dennoch geht einem die plastische Schilderung dessen was geschah und wie sein schwer behinderter Bruder ihn im Badezimmer fand tief unter die Haut und vermag zu erschüttern. Es gehört eine Menge Courage dazu, so mit seinen Geschichten und Problemen umzugehen. Hier hat es sich zumindest künstlerisch gelohnt. Die aufgebaute Atmosphäre und die dann durch die einfach zur Musik vollkommen sachlich vorgelesene Schilderung der Geschehnisse ist etwas nie Dagewesenes und absolut brillantes. Dass dieser Track das Album beendet, tut sein Übriges dazu.
So mutig, so intim. Casey haben sich mit „Where I Go When I Am Sleeping“ selbst ein Denkmal gesetzt und im Post-Hardcore einen kleinen Meilenstein erstellt, den es qualitativ erstmal zu erreichen gilt. Runde Instrumentals, saubere Shouts, emotionaler Gesang, ergreifender Inhalt, so muss Post-Hardcore klingen.
Wertung
Dieses Album wurde für mich allein geschrieben und für dich alleine. Für jeden von uns für sich. Casey rütteln dich auf, bringen dich zum Weinen und wischen dir deine Tränen gleichzeitig wieder weg. Bravourös.
Wertung
Jede Note und jedes Wort, vom ruhigsten Moment bis zum lautesten Schrei, wirken unbeschreiblich zerbrechlich. Ein Album wie der Zusammenbruch, nachdem man alles verloren hat. Das Fallen in das unendliche schwarze Loch der Depression in Musikform. Wunderschön.
Moritz Zelkowicz
Moritz deckt als Franke den Süden Deutschlands ab. Er versucht beständig Teil der Lügenpresse zu sein, ist aber ansonsten im Marketing tätig. Musikalisch ist er überall dabei, ob Punk, Core oder Rap, erlaubt ist, was gefällt.