Die Nerven und ihr selbstbetiteltes Album: Zum zerreißen gespannt
30.09.2022 | Kai Weingärtner
“Deutschland muss in Flammen stehen – ich will alles brennen sehen.” Wenn irgendjemand in diesen Satz sowohl unbändige Wut als auch friedvolle Schönheit legen kann, dann ist das Max Rieger. Die Nerven melden sich vier Jahre nach dem Erfolg von “fake” zurück und finden klare Klänge und noch klarere Worte für die Realität der jüngsten Vergangenheit. Das ursprünglich aus Stuttgart stammende Trio gehört schon seit seiner Gründung zu den maßgeblich formativen Kräften der deutschen Post-Punk-Szene, und warum das so ist, zeigen sie auch mit ihrem selbstbetitelten Album eindrucksvoll.
Effektverhangene Gitarren und mürrisch stampfende Drums vermengen sich mit tragischen Streicher-Arrangements und der eindringlichen Stimme von Max Rieger, deren Expressivität auch auf “Die Nerven” wieder ihresgleichen sucht. Schon die großartig getimeten Stimmungsaufbauten und plötzlichen Wendungen im musikalischen Fundament des Albums reichen aus, um Nackenhaare zu Berge stehen zu lassen. Aber wenn Riegers Stimme in Sekunden von beschwörerisch-eindringlich zu lasziv-arrogant zu manisch-schwankend wechselt, transportiert diese Liaison ein emotionales Spektrum, das kaum andere Künstler:innen erzeugen können.
Ich dachte mir: Zur Hölle mit meinen Privilegien. Jetzt bin ich dankbar, dass ich welche hab.
Ganz egal
Eine ganz große Stärke der Platte ist ihre Frische und Unvorhersehbarkeit. Schon die allererste Single “Europa” war ein erster Einblick in diese Varianz, öffnet sich der Song doch nach knapp der Hälfte akustischem Lament zu einer wild-epischen Hymne auf die eigene Verklärung. Von der Reflexion, dass er bisher dachte, Europa sei eine Festung der Unsterblichkeit, kommen die Nerven schon auf dem nächsten Track zu der Erkenntnis, dass auch in Deutschland jeden Tag gestorben wird. Der Tod, seine Metaphern und seine Rezeption sind ein Thema, das sich durch das gesamte Album zieht. Die folgenden Songs beleuchten, so könnte man es interpretieren, die verschiedenen Facetten des gesellschaftlichen Dahinsiechens, die uns die Nerven auf der Makroebene schon mit den ersten beiden Tracks so eindrucksvoll aufgezeigt haben. Von Paralyse und Hybris (“Keine Bewegung”) über Ohnmacht und Kontrollverlust (“Alles reguliert sich selbst”) bis zur völligen Gleichgültigkeit (“Ganz egal”).
Das selbstbetitelte Album der Nerven ist eine zugleich euphorische und bedrückende Reise zwischen Höhenangst und Größenwahn, die mit “180°” und dem absolut genialen Satz “Der Tod läuft nicht gut auf Instagram” ihren fulminanten Abschluss findet, und die Zuhörer:in erschüttert, ratlos und letztlich genau da zurücklässt, wo sie begann. Und trotzdem ist nichts wie vorher.
Wertung
Zeitlos und zugleich aufmerksam beobachtend. Kühl und zugleich aufwühlend. “Die Nerven” ist ein Album, das auch nach dem zehnten Durchlauf nichts von seinem Biss und seiner Eindrücklichkeit verliert.
Kai Weingärtner
Kai studiert zur Zeit mehr oder weniger erfolgreich Politikwissenschaft und Anglistik in Osnabrück. Da man damit natürlich keinerlei Aussichten auf einen “vernünftigen” Job hat, ist er nun bei Album der Woche angeheuert um sich seine Zukunft als Taxifahrer etwas aufzulockern. Sein Musikgeschmack umfasst alles, was E-Gitarre und Schlagzeug hat oder anderweitig Krach macht.