Zeal & Ardor und “GREIF”: Wildwuchs
19.08.2024 | Kai Weingärtner
Angefangen hatte die Geschichte von Zeal & Ardor als eine alternative Geschichte davon, wie sich Schwarze Menschen der Zwangchristianisierung durch die europäische Kolonialisierung widersetzen und sich stattdessen dem Teufel persönlich zuwenden. Die deutlich explizit politische EP “Wake Of A Nation” verlässt dieses Szenario zwar bereits, bleibt allerdings weitestgehend im Kontext afroamerikanischen Widerstandes. Bereits auf dem selbstbetitelten dritten Album war dieses narrative Konstrukt nicht mehr ganz so eng gestrickt, und mit “GREIF” nehmen sich Zeal & Ardor ein Vorbild aus der europäischen Mythologie. In Manuel Gagneuxs Heimatstadt Basel stolziert zur Belustigung der Anwesenden einmal im Jahr ein Greif durch die Straßen. Er symbolisiert den Aufstand der arbeitenden Bevölkerung gegen die herrschende Elite.
In der griechischen Mythologie waren Greifen vor allem dafür bekannt, Schätze – genauer gesagt Goldvorkommen – zu bewachen. Einige Quellen berichten von den Wesen auch als todesmutige und unbändige Beschützer ihrer Jungen. Im Christentum wurde der Greif, als Mischwesen aus Löwe und Adler, mit Jesus in Verbindung gebracht, denn schließlich war auch der teils irdisch und teils himmlisch und galt als Beschützer der Schwachen. Zeal & Ardor mögen also den Kontinent gewechselt haben, die Symbolik bleibt aber weiterhin. In den Video-Clips zu den vier Vorabsingles des Albums spinnt sich die mythologische Story weiter. Im Video zu “to my ilk” sehen wir eine Greifenstatue, dazu eine Beschreibung des Wesens als “Essenz der Stärke und Erhabenheit” und “loyalem Begleiter der Tapferen”. In “Clawing out” treffen wir dann auf die vermeintliche Antagonist:innen dieser Geschichte: die Arimaspi. Die Band bezieht sich hier auf die Erzählungen des griechischen Dichters Aristeas, der das Volk der Arimaspi als einäugige, berittene Greifenjäger beschreibt. Laut dem Text im Video steuern sie die Welt immer weiter Richtung Dunkelheit. Sind das also diese Eliten, gegen die sich der Greif in Basel symbolisch auflehnt. Die Darstellung der Person im Video, schwarz gekleidet auf dem Rücksitz einer teuren Limousine, lässt sich jedenfalls nur zu gut als Teil der superreichen Einflussnehmer:innen deuten. Weiter geht die Erzählung im Clip zu “Fend You Off”. Wir sehen in das zunehmend angespannter werdende Gesicht einer Person am Steuer eines Autos. Immer wieder blickt sie sich nervös um. Ist sie die Chauffeurin der Person aus dem vorherigen Video, Verfolgerin oder Verfolgte? Der Text klärt uns über die “Descendant” (Nachfahren) auf. Getarnt als Menschen vertreten Sie den Geist des Greifen und tragen “die Fackel des Widerstands” gegen die Arimaspi. Im “Hide in Shade”-Video erfahren wir dann letztlich, wonach sich die “Descendant” umschaut. Auf dem Rücksitz des Autos liegt ein Greifenei. In der Mythologie werden Greifeneier oft mit Edelsteinen assoziiert, gleichgesetzt mit dem Schatz, den der Greif selbst mutmaßlich bewacht. Sie werden auch mit dem Aetitstein assoziiert, einem Mineralgemisch, das im Mittelalter als Medizin zur Geburtshilfe verwendet wurde. Symbolisiert das Ei in diesem Fall also den revolutionären Geist des Greifen, der bald in einer nächsten Generation wiedergeboren wird?
Neben den Videos gibt das Album “GREIF” leider wenig Aufschluss über den Ausgang der Geschichte. Diese bietet allerdings eine hervorragende Bühne für das rebellische Brodeln, das der Platte musikalisch wie textlich innewohnt. Nachdem Zeal & Ardor auf ihrer letzten LP so konsistent und in sich schlüssig klangen wie nie, franst “GREIF” wieder mehr in verschiedene Einflüsse aus. Von der Band hier im Plural zu sprechen ist übrigens so richtig wie nie zuvor, denn Gagneux hat zwar erneut alle Songs selbst geschrieben, nahm aber seine gesamte Band mit ins Studio und sie nahmen die Platte gemeinsam auf. Gerade in den mehrstimmigen Gesangspassagen kommt das besonders stark zum tragen, denn hier harmonieren nicht wie bisher dreimal dieselbe, sondern drei verschiedene Stimmen miteinander, was den Gospel-Chören und Call-and-Response-Abfolgen mehr Dynamik verleiht. “are you the only one now?” ist ein gutes Beispiel dafür: Die fast schon wehleidige Gesangsmelodie wirkt wie das heisere Lamenti einer Beerdingunsprozession, bevor der Song im vielleicht härtesten Black Metal Finale des Albums mündet, nur um danach wieder schlafliedartig in sich zusammen zu fallen.
Aber die Experimente hören nicht beim Aufnahmeprozess auf. Zwar lässt sich “GREIF” weiterhin sehr klar in den etablierten Zeal & Ardor Sound aus Black Metal, Blues und Gospel einordnen, aber es schleicht sich beispielsweise auch der Rock'n'roll in die Tracklist. Mit seinen treibenden Schellenkränzen und Gangvocals erinnert “Thrill” ein wenig an die frühen Outputs der norwegischen Band Kvelertak. Der direkt darauf folgende Song “une ville vide” ist ein rein instrumentales Stück elektronischer Musik, bevor Zeal & Ardor sich “Sugarcoat” an mitsingbaren Hardrockriffs versuchen. Auch ruhigere Momente finden sich auf “GREIF”. Das andächtige Klavierintro von “Solace” und das reduzierte Finale “to my ilk” offenbaren das feinfühlige emotionale Spektrum von Gagneuxs Songwriting. Der wohl wildeste Stilgriff des Albums findet sich aber auf der zweiten Single “Clawing Out”. Hier, zwischen brutalen Riffs und den stilprägenden lateinischen Lyrics, gedeit langsam aber sicher nicht weniger als ein Hardstyle-Drop, der sich in den Höhepunkt des Songs einreiht. Aufs erste Hören ist das ein eher gewöhnungsbedürftiger Sound, mit wiederholtem Aussetzen fügt sich das Bild aber zunehmend nahtloser zusammen. Am Ende kann man aber wohl doch froh sein, dass es sich bei diesem Experiment auf einen Song beläuft.
Textlich bleibt Gagneux auf diesem Album seiner Linie treu. Schmerz, Wut und Trauer sind die bestimmenden Emotionen von “GREIF”, aber aus deren Aufeinanderprallen entsteht über die Dauer des Albums hinweg ein ungeheurer Drive, der der Widerstandsgeschichte, die Zeal & Ardor mit dieser Platte aufmachen, überaus gut zu Gesicht steht. “Fend You Off” spielt dabei mit einer fast apathischen Resignation, die sich in der bitteren Zeile “a fool is the person who truly reverts to the law” widerspiegelt. Eine Realisation, die kaum eine Gruppe Menschen je so endgültig und niederschmetternd zu spüren bekommen hat wie die afroamerikanische Bevölkerung der USA, mit deren Kämpfen sich Gagneux seit den Kindertagen seines Projektes solidarisiert.
Wertung
Das selbstbetitelte Album von Zeal & Ardor war für mich einer der größten musikalischen Momente, an die ich mich erinnere. Selten habe ich ein Konzept als so sehr zusammengewachsen, organisch und stimmig wahrgenommen. Die Latte lag also enorm hoch für “GREIF”. Und auch wenn das neue Album (stand jetzt) noch nicht an die emotionale Schlagkraft des Vorgängers herantreten kann, zeigt es doch, dass die musikalische Entwicklung dieser Band noch lange nicht am Ende ist. Auf die Konvergenz folgt die Divergenz. Manuel Gagneux und seine Bandkollegen gehen unbeirrt neue Wege, und auch wenn mich diese Wege nicht immer sofort abholen, will ich ihnen doch immer folgen und bin gespannt, wohin die Reise dieser Band geht. Da verzeihe ich sogar einen Hardstyle-Drop.
Kai Weingärtner
Kai studiert zur Zeit mehr oder weniger erfolgreich Politikwissenschaft und Anglistik in Osnabrück. Da man damit natürlich keinerlei Aussichten auf einen “vernünftigen” Job hat, ist er nun bei Album der Woche angeheuert um sich seine Zukunft als Taxifahrer etwas aufzulockern. Sein Musikgeschmack umfasst alles, was E-Gitarre und Schlagzeug hat oder anderweitig Krach macht.