Mario Radetzky von Blackout Problems: „Die Welt wird sich verändern!“
08.04.2024 | Jakob Uhlig
Mario Radetzky anzurufen hat in den letzten Jahren durchaus andere Vorzeichen bekommen. 2018, als seine Band Blackout Problems gerade ihr zweites Album „Kaos“ veröffentlicht hatte, fand das dazugehörige Interview bei Album der Woche noch unter mittelkomfortablen Umständen auf dem Boden der Abstellkammer eines Berliner Plattenladens statt. Heute, knapp sechs Jahre später, ruft Radetzky von einem französischen Campingplatz einige Fußmärsche von Paris entfernt an, wo er gerade mit seiner Band einen Off-Day während einer Europatour mit niemand geringerem als Enter Shikari und Fever333 genießt. Dass die Blackout Problems mittlerweile auch auf solche Konzertreisen fahren, klingt im Kontext einer in den letzten Jahren immer hart am Limit werkelnden Rock-Combo aus dem Münchener Underground, die mittlerweile beim Major Label gelandet ist, fast schon wie der klischeebehaftet romantisierte Aufstieg aus dem Dorfclub zum großen Ruhm, oder – um mit noch etwas mehr Kapitalismus-Euphemismen zu sprechen – nach dem künstlerischen American Dream. Vielleicht ist es das überbetont träumerische dieser oberflächlichen Erzählung, vielleicht auch die gleichzeitig erfolgenden und nicht immer ganz so sichtbaren persönlichen wie karrieretechnischen Tiefpunkte oder vielleicht gerade der Wille einer Band, sich solchen märchenhaften Wachstumserzählungen entziehen zu wollen, die das Ganze immer noch etwas unwirklich erscheinen lassen.
„Ich habe in den letzten Jahren so viele Rückschläge erfahren müssen“, sinniert Radetzky über seine eigenen letzten Jahre und die letzten Jahre seiner Band. „So ein internationalerer Weg ist immer auch ein Wagnis, das mit vielen Unsicherheiten verbunden ist. Man fährt raus aus dem gewohnten Deutschland und ist dann plötzlich von ganz anderen Sorgen betroffen. Aber ich bin total glücklich, dass wir machen, was wir machen. Ich freue mich so, mich als Musiker zu bezeichnen. Früher habe ich mich damit immer sehr schwergetan, weil wir in Deutschland ja sehr oft dieses materialistische Denken haben. Als ich aus der Schule kam und zusätzlich immer noch Nebenjobs hatte, kam immer die Frage auf, ob ich vom Musikersein denn leben könne. Mit diesem Gedanken wurde ich in meinen Augen ganz oft kleingehalten. Wenn ich dem 20-jährigen Mario einen Tipp geben könnte, würde ich ihm sagen: Du weißt doch, was du machen willst. Entscheide dich und mach das einfach.“
Trotz aller Internationalisierung sind es bei den Blackout Problems in den letzten Jahren eigentlich nicht unbedingt massiv wachsende Zahlen, die einem als erstes einfallen würden. Tatsächlich spricht auch Radetzky eher zurückhaltend – wenngleich ihr neues Album nur wenige Tage nach dem Gespräch einen Einstiegsplatz 5 in den Charts zu vermelden hat. „Die Bedeutung von dem, was Erfolg ist, hat sich für uns in den letzten Jahren auf jeden Fall verändert“, sagt der Sänger. „Wir messen Erfolg gerade sehr stark im Glücklichsein. Wir sind nicht die Band mit den höchsten Streaming-Zahlen. Wir sind auch nicht von heute auf morgen wahnsinnig bekannt geworden. Das sind andere.“ Tatsächlich zeichnet sich in „Riot“ und um die Band herum ein Angekommensein auch eher dadurch ab, dass die Gruppe in vielerlei Hinsicht zu sich gefunden zu haben scheint. Das ist wohlmöglich insbesondere deswegen besonders bemerkenswert, weil den Blackout Problems jüngst ein zentrales Bandmitglied verlorengegangen ist. „Riot“ ist das erste Album ohne Mitwirkung von Ex-Schlagzeuger Michael Dreilich, der live und für die Aufnahmen zwar von Heisskalt-Drummer Marius Bornmann vertreten wird, innerhalb der festen Bandkollektion ist sein Platz aber leer geblieben. Trotz der erheblichen Umwälzungen, die das für das Songwriting bedeutet, klingt „Riot“ wie mit seinen großflächigen, multidimensionalen Mixturen aus klassischen Rockbanderzeugnissen und dicht geflochtener Elektronik wie eine konzentriertere Version des Vorgängers „Dark“. Das wirkt paradoxerweise umwälzend, weil bisher eigentlich jedes Blackout-Problems-Album klanglich einen prägnanten Bruch zum vorherigen gebildet hatte.
„Der Drummer ist in einer Band für mich eine ganz wichtige Person, weil ich im Songwriting immer viele Harmonien, Melodien und Texte bringe und dann eigentlich immer den Menschen brauche, der mir den Beat gibt“, denkt Radetzky über die neuen Schritte nach, die er während den Schreibarbeiten zum vierten Album vornehmen musste. „Nun musste ich plötzlich Drums selbst programmieren – das habe ich vorher noch nicht viel gemacht. Ich habe dieses Mal das erste Mal selbst produziert. Das hat viel mit mir gemacht. Ich musste viel über uns reflektieren, aber auch über den Gedanken, dass auf diesem Album am Ende mein Name stehen wird. Beim Songwriting habe ich mehr experimentiert, ich war auf gewisse Weise freier. Und dann gab es den Moment, als Marius die Drums im Studio eingespielt hat und das von mir Programmierte zum Leben erweckt hat. Das war ein brutal krasses Gefühl.“ So ist „Riot“ in seiner Kernessenz klanglich vor allem ein Album geworden, das auf der Makroebene mit vielen etablierten Kniffen arbeitet, aber in der Mikroebene des Songwritings daher umso mehr ausprobieren kann und muss. „Ich bin viel freier mit alldem umgegangen“, sagt Radetzky. „Wenn ich da jetzt Beats abgegeben habe, die kein Schlagzeuger spielen kann oder wenn ich da jetzt zwei Loops übereinander gelegt habe, die sich gut anfühlten, dann spielen wir das live eben anders. Ich habe damit nochmal ein großes Feld an Kreativität aufgemacht und konnte das Ganze auch nochmal anders betrachten. ‚Riot‘ ist total beflügelt.“
Inhaltlich ist der namensgebende „Riot“ dabei gar nicht so klar gegen einen bestimmten Gegner gerichtet, wie ihn der martialische Titel vielleicht suggerieren würde. Hatten die bisherigen Blackout-Problems-Platten oft stark in ihrem Fokus auf persönliche oder gesellschaftliche Kämpfe geschwankt, ist das vierte Album der Münchener geradezu ein Rundumschlag geworden. „2024 fanden Kriege fast vor unserer europäischen Haustür statt, wir müssen uns weiterhin mit der Klimakatastrophe auseinandersetzen, weiterhin werden Klimaaktivist:innen beziehungsweise die Wissenschaft nicht so ernst genommen, dass man in der Politik auch wirklich handeln würde“, fängt Radetzky an, wenn er über seine momentane Sicht auf die Welt gefragt wird, die sich auch in „Riot“ widerspiegelt. „Gleichzeitig findet auf diesem Album aber auch eine sehr persönliche Reise statt. Ich habe einen engen Freund aus meinem Leben verloren und habe mir im Zuge dessen wahnsinnig viele Gedanken über mich selbst gemacht, wie ich bin, wie ich lebe, was mein Selbstwert ist. Das hat oft wehgetan.“
Dass diese Themen auf „Riot“ auch zu einer für Radetzky teilweise ungewöhnlich wütenden Sprache führen, ist vielleicht Zeugnis der harten Themen, die das Album verhandelt, möglicherweise aber auch das Kind einer Zeit, in der die Verhärtung verbaler Fronten gesellschaftlich ohnehin immer auffälliger wird. „Puzzle“ etwa, ein Song, in dem Radetzky recht deutlich persönliche menschliche Konflikte auszutragen scheint, steigt mit einer brutalen Gewaltmetapher ein, wenn es heißt: „Give me a shotgun/ And let me do the rest all by myself/ I’ll kill every inch inside of me/ That is not working well.“ In „Glofs“ wiederum, einer Single im Zeichen der Klimakatastrophe, in der niemand Geringeres als Rou Reynolds von Enter Shikari als Feature-Gast auftritt, wird eine unvermeidbare Rache ganz direkt angesprochen: „I don’t close my front door/ Cause it’ll come anyway like an unwanted guest/ While we wait on the rooftop/ We wait for the revenge/ The sweet, sweet revenge“. „In „Glofs“ geht es um die Katastrophe im Ahrtal“, reflektiert Radetzky letzteren Textausschnitt. „Da war es für mich so erdrückend, mit was für einer Wucht und Gewalt die Natur dem Menschen gezeigt hat, dass wir nicht über alles herrschen können. Dieser Wunsch nach immer größer, größer, größer und mehr, mehr, mehr fordert vielleicht auch irgendwann eine Rache von der Natur ein, die einfach stärker ist als der Mensch.“
Angesichts dieser sprachlichen Schärfen mag es überraschen, dass Radetzky einen finalen Ausblick auf die Zukunft doch mit gewissem Optimismus schweifen lässt. Hatte er am Ende von „Kaos“ nach einer zerrüttenden Gefühlsreise die Zeile „I’m not scared of the future“ noch eher als persönliches Credo vor sich heraufbeschworen, klingen in seinem heutigen Resümee auch wirklich greifbare Gründe zur Hoffnung an. „Um unsere Band versuche ich mir gerade, nicht zu viele Sorgen zu machen“, schließt er. „Um unsere Welt sollte man sich Gedanken machen, nicht Sorgen. Man sollte keine Angst davor haben, Veränderung anzutreiben, denn die, die uns sagen, dass Veränderung den Tod bedeutet, die wollen, dass alles so bleibt. Wir müssen in unserem Wirken als Menschheit aber etwas ändern. Es gibt überall noch einen Schritt zu machen, aber es kommt etwas ins Rollen, und das stimmt mich froh. Ich versuche, mich dem offen gegenüberzustellen und dazuzulernen. Ich will nicht sagen: Ich weiß jetzt, wie die Welt läuft. Die Welt wird sich verändern, und wir sollten dafür offen bleiben.“
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.