Mario Radetzky von den Blackout Problems über „Kaos“: Scheiden tut weh
29.06.2018 | Jakob Uhlig
Wirklich glücklich wirkt Mario Radetzky am heutigen Tag nicht – dabei hätte er eigentlich allen Grund dazu. Es ist ein sonniger Freitag im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Gerade hat Radetzky mit seiner Band einen Promo-Gig in einem kleinen Plattenladen gespielt. Die rund 50 anwesenden Fans freuen sich über die nach wie vor ungebrochene Energie der Blackout Problems, die dieses Konzert aus einem ganz besonderen Anlass spielen: Es ist der Release-Tag ihres zweiten Albums „Kaos“. Nach monatelanger Promo-Arbeit, einem erschöpfenden Schaffungsprozess und unzähligen Konzerten im ganzen Land sind die Münchener endlich an diesem befreienden Punkt angekommen. Und trotzdem wirkt Radetzky außerhalb seines Auftritts so, als wäre er gerade lieber irgendwo anders.
Was ihm an diesem Tag durch den Kopf geht, kann man als Außenstehender wohl nur vermuten. Doch wenn man die Bürde betrachtet, die auf „Kaos“ liegt, dann kann man kaum anders, als Radetzky Verständnis zu schenken. Die zweite Platte der Blackout Problems spricht tief aus seinem Innersten, erzählt von Trennung, Verlust und Ängsten, aber auch dem Mut zum Weitermachen. Das ist aus zweierlei Gründen besonders bemerkenswert. Zum einen, weil die Blackout Problems bisher vor allem als politische Band in Erscheinung getreten waren und selten einen so tiefen Gefühlseinblick in ihre Musik zuließen. Zum anderen aber auch, weil die Zeilen auf „Kaos“ viel schonungsloser und echter wirken als auf den Werken anderer Künstler, die sich mit einem solchen Thema auseinandergesetzt haben. Gerade dann, wenn Radetzky lebensnah beschreibt. Im Song „Holly“ heißt es da zum Beispiel: „Since you moved all my stuff to the guest room, I’m not prepared for a winter without you.“
Dieser Prozess mag etwas suspekt erscheinen, wenn man ihn innerhalb der zeitgenössischen Musiklandschaft kontextualisiert, die momentan eher den umgekehrten Weg geht und seit Trump-Präsidentschaft und AfD-Aufstieg immer politischer wird. Für Radetzky stellt sich aber gar keine andere Möglichkeit: „Das war ein ganz natürlicher Prozess. Meine persönlichen Umstände haben dieses Album bedingt. Wenn bei mir alles perfekt gelaufen wäre, dann wäre unsere zweite Platte eine andere geworden.“ Und trotzdem: Dass „Kaos“ so viel von persönlichen Gefühlen spricht, bedeutet nicht, dass Radetzky die Entwicklung des politischen Weltgeschehens gar nicht mehr wahrnimmt: „Bei einer Trennung denkt man sofort an das Ende einer Beziehung. Dabei ist das Wort vielschichtiger, man kann sich von allem möglichen trennen. Ich habe mich zum Beispiel eine Zeit lang von meinem Wohnort verabschiedet. Und man kann sich auch von jugendlichem Idealismus trennen. Gerade ist so ein komisches Gefühl in der Luft, man weiß nicht, wie die Welt in fünf Jahren aussehen wird. Ich hätte es als Kind nie für möglich gehalten, dass es mal einen dritten Weltkrieg geben könnte. Mittlerweile denke ich anders darüber. Wir leben im 21. Jahrhundert, man sollte meinen, die Menschen wären klug genug, um zu verstehen, dass Krieg eine Einbahnstraße ist. Trotzdem schaffen es immer wieder Personen an die Macht, die angeblich eine Lösung oder eine ‚Alternative‘ parat haben. Diese Gefühle haben mich in den letzten Jahren auch geprägt, und sie sind deswegen auch auf ‚Kaos‘ zu finden. Sie sind aber verschleierter verpackt als früher.“
Konkret zeigt sich das zum Beispiel in einer Zeile wie „Where is your god now?“ aus „Gutterfriends“, die wie ein Symbol für die Orientierungslosigkeit steht - nicht nur in Radetzky selbst, sondern auch in der Gesamtbevölkerung. Dennoch ist „Kaos“ in erster Linie kein Aktivismus, sondern der Spiegel einer zerrütteten Seele, die immer noch nicht mit allem klarkommt, was sie in ihrer jüngeren Vergangenheit erleiden musste. Für Radetzky ist das die Verarbeitung seiner selbst, aber auch eine Hilfe für alle, denen es ähnlich geht: „Wenn man als Künstler mit solchen Texten an die Öffentlichkeit geht, dann weiß trotzdem nur der engste Kreis die genaue Geschichte dahinter. Gleichzeitig kann aber auch der allerweiteste Kreis diese Zeilen lesen und damit seine eigenen Erlebnisse verbinden. Emotionen wie Liebe und Hass kann jeder von uns nachvollziehen. Manche Leute haben uns als Reaktion auf die Platte schon geschrieben, dass sie sich anfühlen würde, als hätten wir in ihrer eigenen Lebensgeschichte gegraben. Das ist ein unheimlich schönes Gefühl.“
Deswegen fürchtet sich Radetzky auch gar nicht, sein Seelenleben einem mittlerweile doch stark angewachsenen Publikum preiszugeben. Auch, wenn die Blackout Problems als Support von Jennifer Rostock vor 7.000 Leuten spielen, bewahren sie sich so noch ihre persönliche Intimität, die auch das Cover von „Kaos“ ziert. Ein kompliziert strukturiertes Gebäude im Kopf eines Menschen stellt dort Radetzkys innere Komplikationen dar: „Wenn du dir ein Haus zum Wohnen bauen würdest, dann könntest du das ja eigentlich auch als simplen Plattenbau entwerfen. Das Gebäude auf dem Cover von ‚Kaos‘ stammt aber aus dem Brutalismus und hat viele verschachtelte Verzweigungen. Das finde ich eine schöne Metapher für die eigenen Gedanken. Im Grunde könnten die Lösungen so einfach sein.“ Aber für einfache Lösungen ist vor allem dann kein Platz, wenn man in ständiger Dauerbelastung keine Zeit mehr für sich selbst findet.
Radetzky kennt das nur zu gut. Mit den Blackout Problems macht er fast alles selber. „Kaos“ erscheint auf dem eigenen Label, den Merchvertrieb hat die Band in die eigene Hand genommen – und dazu kommen eben noch die unzähligen Konzerte, die das Quartett Jahr für Jahr spielt. „Es ist schwierig, bei all dem Stress mal einen klaren Gedanken zu fassen. Meistens passiert das dann auf der Rückbank im Auto, wenn man mal zwei Stunden irgendwo im Stau steht. Deswegen habe ich mir bei diesem Album auch extrem viel Zeit zum Texten genommen. Ich erinnere mich an eine Phase, in der ich fünf Tage lang am Stück im Proberaum gelebt habe. Da bin ich dann einfach nicht mehr nach Hause gegangen.“
Wie aber geht es nach einem „Kaos“ weiter? Radetzky weiß es selbst nicht. Gedanklich steht er gerade vor einem Ground Zero. „Ich kann mir gut vorstellen, dass sich bald alles zum Guten wendet, es kann aber auch das Gegenteil passieren. Wie ein nächstes Album klingen würde, könnte ich deswegen zum Beispiel noch überhaupt nicht sagen. Aber irgendwie ist das auch schön. Wir sind keine konstruierte Band, hinter uns steckt kein Business-Modell. Unsere Musik ist echt.“ Wie sehr Radetzky auf diesem Weg trotzdem mit sich selbst zu kämpfen hat, stellt insbesondere die letzte Zeile von „Kaos“ eindrücklich dar. „I’m not scared of the future“ ist das finale Credo der Platte, eine Botschaft, die Radetzky absichtlich als Schlusspunkt gewählt hat, weil er sich wünscht, dass sie tatsächlich der Wahrheit entspricht. „An guten Tagen glaube ich an diese Zeile, zeitweise habe ich sie mir aber selbst nicht abgenommen. Ich will niemand sein, der Angst hat. Ich möchte auf ein schönes Leben zurückblicken können und gleichzeitig den Mut haben, es an den Nagel zu hängen und Neues zu entdecken.“
Bis dahin ist „Kaos“ der Status quo. Ein berauschendes Trennungs-Werk, das in seiner Stringenz fast analytisch mit der eigenen Zerrissenheit umgeht und dabei gleichzeitig zerrüttend wie trostspendend ist. Die Blackout Problems sind nicht die ersten, die ein solch emotionales Wunder in der alternativen Rockmusik vollbringen, aber viele Vorgänger haben sie nicht. Pianos Become The Teeth vollführten mit „Keep You“ 2014 eine radikale Kehrtwende in ihrer Stilistik, weil sich Trauer und Resignation manchmal eben nicht durch Wut kanalisieren lassen. Touché Amoré schufen mit „Stage Four“ eines der wohl textlich aufwühlendsten Alben aller Zeiten. Gut möglich, dass „Kaos“ die nächste Platte in dieser Reihe ist.
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.