Joes Nagelstudio: "The Fragile" - brachiale Zerbrechlichkeit
18.01.2022 | Johannes Kley
"The Downward Spiral" gilt als DAS Album von Nine Inch Nails. Wie sollte Reznor das noch toppen? Nachdem das Album 1994 rauskam und die Band sich auf Tour begab, eine Remix-CD mit Namen "Further Down The Spiral" und das Live-Tour-Video "Closure" herausgab, sollte fünf Jahre später "The Fragile" erscheinen. War das Vorgängeralbum noch ein Abstieg, ist er dieses Mal am Boden angekommen. Reznors Großmutter, bei der er viel Zeit als Kind und Jugendlicher verbracht hat und die ihm sehr nah stand, verstarb und ihr wurde der Song "I Am Looking Forward To Joining You, Finally" gewidmet. Auch wurde seine Drogensucht wieder schlimmer (vermutlich auch weil seine Großmutter starb) und die Jahre auf Tour waren sicherlich nicht hilfreich, um psychisch gesund zu werden. All dies ist auf "The Fragile" grausam spürbar und neben neuen klanglichen Welten stößt Reznor eben auch tiefer in seine eigene Psyche vor. So schonungslos wie dieses Album ist höchstens das Vorgängeralbum und vermutlich teilen sich diese beiden Alben auch meist den ersten und zweiten Platz bei Umfragen in Foren oder im Subreddit. So genial Reznors Schaffen nach 1999 noch werden sollte, die Brutalität, Angst, Verzweiflung und Wut, die er in diese beiden Alben legte, bleibt unerreicht und das ist vermutlich auch (für Reznor) besser so. Auch für mich ist es eines der besten Alben überhaupt und auf meiner Nine Inch Nails-Liste auf Platz 2, direkt nach "The Downward Spiral". Ihr dürft nun lesen, warum.
Hinweis: "The Fragile" enthält, ja nach Version (CD/Vinyl), 23 oder 25 Songs. Bei Spotify kriegt ihr nur die CD-Version - es fehlen also zwei Songs, da die meisten Menschen aber meist nur CDs kaufen, bekommt ihr somit die Hörerfahrung der meisten Menschen geliefert. Ich wollte es nur erwähnen.
Der Sound des Albums ist deutlich anders als noch auf "The Downward Spiral". Es ist alles ein wenig dissonanter und klingt kaputt, verschoben und irgendwie beschädigt. Das Album tönt teils so, als wäre es kurz davor, auseinanderzubrechen. Produktionstechnisch hat Reznor die Technik der damaligen Zeit vermutlich an ihre Grenzen gebracht und viel mit Loops und Effekten gearbeitet, während andere Stücke beinahe merkwürdig minimalistisch erscheinen. "The Frail" beispielsweise bleibt ruhig, nur um dann in "The Wretched" überzugehen, was einen völlig anderen Ton anschlägt und doch so fließend passiert, dass es kaum auffällt.
Auch "La Mer" ist beachtenswert, da der Song die Zeile "Nothing Can Stop Me Now", die auf "The Downward Spiral" bereits auftauchte, wieder aufgreift. Zum anderen enthält der Träck keine englischen Lyrics, sondern eine Frau, die Kreol spricht. Es war das erste instrumentale Stück, welches für "The Fragile" geschrieben wurde und hat eine besondere Geschichte. Am 3. Juni 2009 bei einem Konzert in Mansfield im Bundesstaat Massachusetts erzählte Reznor dem Publikum, dass dieser Song entstand, als er eigentlich in ein Haus am Meer gefahren war, um sich umzubringen, was noch einmal unterstreicht, wo er sich damals emotional wirklich befand. Letztlich hat er dann "La Mer" komponiert und somit den Grundstein für eines der besten Alben aller Zeiten gelegt.
Völlig anders klingen dann Stücke wie "No, You Don't" oder "Somewhat Damaged", die ohrbetäubend brutal sind und eine unkontrollierte Wut innehaben. Gnadenlos, vor allem sich selbst gegenüber, lässt Reznor seiner ungezügelten Verzweiflung freien Lauf und schafft ein klangliches Klima, welches den Soundtrack für Selbsthass bietet. Die brachialen Lärmwände, die aus den Boxen und Kopfhörern dringen, stehen im starken Kontrast zu "La Mer" oder "The Frail", aber es ist eben die Komposition aus all den verschiedenen Stücken, die "The Fragile" so wahnsinnig gut macht. Es ist für jede (schlechte) Stimmung was dabei und wenn beide Seiten nacheinander durchgehört wurden, ist es ungefähr vorstellbar, wie es Reznor damals ging.
Da wir ja gerade von lauten Tracks sprechen...schreiben...ihr wisst schon. Wie ich, glaube ich jedenfalls, schon einmal erwähnt hatte, war Reznor ein früher Förderer Marilyn Mansons. Manson veröffentlichte auf Reznors Label und Trent spielte auch Gitarre auf "Antichrist Superstar". Nachdem diese sich zerstritten hatten, hatten sie sich für ein Musikvideo noch einmal zusammengerauft. Reznors Song gegen Courtney Love, die damals versuchte, sich an ihn zu hängen und Gerüchte verbreitete, versahen sie gemeinsam mit interessanten Bildern. Es dauerte nicht lang, bis Reznor Manson wieder den Rücken kehrte, aber der Song bleibt ein interessantes Produkt seiner Zeit und das Video ist recht unterhaltsam.
In den 23 (oder 25) Songs von "The Fragile" findet sich alles, vom ruhigen Pianostück bis zur unkontrollierten Gitarrenexplosion. Thematisch geht es natürlich größtenteils um die Probleme Reznors, teils mit hemmungslos grausamen Texten. Es ist kein Album für Menschen, die gerne Gute-Laune-Hits hören. Es ist dunkel, dissonant und grausam. Mich persönlich aber entspannt es. Es ist absolute Katharsis, ebenso wie das Vorgängeralbum. Ich kann mich voll und ganz in die Musik legen und alles andere ausblenden. Das mag nicht jedem Menschen so gehen und es mag manche sogar triggern, dessen bin ich mir bewusst. Doch wer so ein Album verträgt oder gar braucht, wird mit "The Fragile" ein Werk finden, welches es nur einmal gab. Selbst die instrumentalen Stücke bieten mehr emotionalen Tiefgang als alle Santiano-Alben gemeinsam. "Just Like You Imagined" beispielsweise beginnt sanft, verspielt und steigert sich langsam verzerrt in ein Schreien, welches so sehr nach Dissoziation klingt, dass es fühlbar ist.
Reznor hat nie versucht, an etwas von sich selbst anzuknüpfen und jedes Album klingt anders. Er hätte es auch nicht gekonnt. Wäre er nicht aus dem Seelenzustand, den er zu dieser Zeit hatte, herausgekommen, wäre er sicherlich tot. Es kann nur eine "The Fragile" geben und diese ist in ihrer bewussten Imperfektion so perfekt.
Auditive Depression und brachiale Zerbrechlichkeit.
Johannes Kley
Kolumnist und Konzertmuffel Joe ist Gesundheits- und Krankenpfleger in Bochum, liebt seinen Hund, liest leidenschaftlich gern, gibt ungern Bewertungen für Alben ab, ist Musikliebhaber, irgendwo zwischen (emotional) Hardcore, Vaporwave, Goth-Pop und Nine Inch Nails und versorgt euch unregelmäßig mit geistigen Ergüssen aus seiner Gedanken- und Gefühlswelt.