Joes Nagelstudio: "Year Zero" - Die Zukunft ist jetzt
21.01.2022 | Johannes Kley
Momentan benutzt ja jeder Idiot und jede Querdenkerin das Wort "orwellsche", um Zustände oder Maßnahmen zu beschreiben. Das sie dies öffentlich auf der Straße unter Polizeischutz oder frei im Netz tun und noch nicht einmal merken, wie widersprüchlich das ist, lasse ich jetzt einmal so im Raum stehen. Wirklich orwellsche Zustände werden auf "Year Zero" thematisiert. Das 2007er Album der Band ist dahingehend besonders, weil es größtenteils politisch und gesellschaftskritisch ist und weniger persönlich, als der Rest der Nine Inch Nails-Diskographie. Es gibt Songs über Gewalt, Krieg, Widerstand und den Verlust der eigenen Identität.
Besonders die erste Single "Survivalism" zeigte schon recht gut, in welche Richtung das Album geht und griff Zensur und Überwachung im dazugehörigen Video sehr unterhaltsam an.
Musikalisch ist "Year Zero" wieder deutlich aggressiver und auch elektronischer als das vergleichsweise vorsichtige "With Teeth". Es wird sehr viel mit Effekten gearbeitet und bei "The Great Destroyer" kommt kurzzeitig die Frage auf, ob die Boxen oder Kopfhörer noch funktionieren. Es klingt alles ein wenig rauer und abgenutzter und passt somit zur Thematik des Albums.
Passend zum Album gab es auch ein Alternate Reality Game, bei welchem USBsticks auf Konzert-Toiletten versteckt wurden, etliche Websites erstellt wurden und noch einiges mehr existierte, um die Welt von "Year Zero" aufleben zu lassen. Die Geschichte ist, kurzgefasst, dass die USregierung nach Terrorattacken im Jahr 2022 die Wiedergeburt des Landes ausruft. Das Jahr Null. Das ganze ist im englischen Wikipedia-Artikel recht gut zusammengefasst. Viele der Seiten sind mittlerweile tot, aber damals war das wirklich spannend, weil in den Foren immer wieder neue Seiten und Telefonnummern auftauchten und die Spannung auf das Album stetig stieg. Wer dabei war, fand es geil, alle anderen haben eine der besten Promo-Aktionen verpasst, aber am Album ändert es nichts, also bitte nicht traurig sein. Ich weiß noch bis heute, wie ich damals in der Mittagspause zum Markt gelaufen bin und beim Elektronikfachhändler das Album am Erscheinungstag gekauft habe und so glücklich war, weil die Wochen davor so spannend waren. Als die CD zu Hause nach dem Abspielen dann noch die Farbe änderte, war ich völlig begeistert. Es ist zwar nur eine wärmeempfindliche Beschichtung, aber es passt eben zum druchdachten Gesamtkonzept des Albums.
Es sollte eigentlich auch eine TV-Serie dazu geben, aber diese hat es nie in die Produktion geschafft.
Ich bin bei "Year Zero" sehr ambivalent. Kein Album wurde so intelligent und durchdacht beworben. Aber es ist eben auch das unpersönlichste Album der Band. Ich liebe Songs wie "The Beginning Of The End" oder "Zero-Sum", auch weil Reznor damals die Multi-Tracks zum gesamten Album freigab und alle Menschen Remixe erstellen konnten. Das habe ich ausgiebig getan, wodurch ich viele öfter gehört habe, als ich es sonst getan hätte, und auch wenn die bandeigene Remix-Seite mittlerweile abgeschaltet ist, erinnere ich mich gerne an die Zeit. Ich setze mich allerdings viel zu selten hin und höre das Album in Ruhe. Ich liebe eben die persönlichen Texte von Reznor einfach mehr und so sehr ich George W. Bush damals gehasst habe (wer konnte ahnen, dass wir ihn mal vermissen würden, als Trump an der Macht war), so leide ich bei "Hurt" lieber mit, als bei "Capital G".
Trotz allem ist das Album ein wichtiger Teil der Nine Inch Nails-Diskographie und zeigt die Wandlungsfähigkeit Reznors.
"Year Zero" ist grandios produziert und beworben worden, es ist musikalisch fordernd, aber auch belohnend und versucht mehr zu sein, als ein bloßes "Fuck Bush", sondern beleuchtet viele gesellschaftliche Entwicklungen und Probleme und hat mit einigen Vermutungen leider auch Recht gehabt (also das Alles beschissener wird). Wer auf Dystopien steht, wird es lieben und auch Menschen, die elektronische Rockmusik mögen, sollten definitiv reinhören.
Nein. Alle sollten reinhören.
Das Album ist ein mutiges Projekt gewesen und auch wenn es auf meiner Nine Inch Nails-Rangliste eher auf den hinteren Plätzen rangiert, ist es dennoch sehr gut und besser als fast alles was meine Redaktionskollegen und -kolleginnen sonst so hören. Gut, die mögen auch Santiano, da ist das nicht schwer.
Johannes Kley
Kolumnist und Konzertmuffel Joe ist Gesundheits- und Krankenpfleger in Bochum, liebt seinen Hund, liest leidenschaftlich gern, gibt ungern Bewertungen für Alben ab, ist Musikliebhaber, irgendwo zwischen (emotional) Hardcore, Vaporwave, Goth-Pop und Nine Inch Nails und versorgt euch unregelmäßig mit geistigen Ergüssen aus seiner Gedanken- und Gefühlswelt.