Jahresrückblick 2022: Joe
23.11.2022 | Johannes Kley
Alben des Jahres
Es erschien nicht so viel gute Musik, wie manch anderes Jahr, aber ich kann mich bei den Meisterwerken dennoch nicht entscheiden. Darum gibt es kein Album des Jahres, sondern eben zwei.
"Nichts" von FJØRT und "A Eulogy For Those Still Here" von Counterparts liefen seit Erscheinen (nein, bereits vor Release, denn wenn du bei uns mitmachst, bekommst du Alben auch gerne mal ein paar Wochen vor Erscheinen) in Dauerschleife und sie begeistern mich maßlos.
So viel Verzweiflung, so viel Trauer und so viel Schmerz wurde in diese Alben getragen. Bei beiden Bands warte ich auf das erste schlechte Album, doch 2022 ist nicht das Jahr, in welchem sie es veröffentlichen. Stattdessen bescheren sie uns die durchdachtesten und brutalsten Werke ihrer Karriere. Und ich liebe sie. Fjørt schafft es sogar, dass ich mir mal wieder Konzertkarten für das nächste Jahr gekauft habe. Ob ich letztlich auch hingehe wird sich zeigen, aber vorerst habe ich die Karten und das hat in letzter Zeit keine Band geschafft.
Song des Jahres
Ich hatte zuerst an einen Song von FJØRT oder Counterparts gedacht, bis mir einfiel, dass ich dieses Jahr einen viel krasseren Ohrwurm hatte.
"Coffin" von Holding Absence war dieses Jahr mein vermutlich meistgespielter Song und bis heute freue ich mich immens, wenn mein MP3player ihn mir spielt. So viel zerbrechliche Schönheit und Anmut in einem Song sind selten und haben nicht umsonst zu einer Kolumne geführt.
Hab ich euch schonmal erzählt, dass ich mal fast mit Lucas ein Interview geführt hätte?
Ne? Gut. War beim Impericon Festival in Oberhausen. Hab ihn nach dem Gig einfach angesprochen und wir wollten uns dann per Instagram schreiben, wegen eines Ortes dort. Ich bin dann aber sturzbetrunken um 18 Uhr abgehauen und hatte es total vergessen. Er aber auch. Hat mir erst am nächsten Tag geantwortet. Aber total netter Typ.
Na jedenfalls ist der Song definitiv mein Song des Jahres. Danke Holding Absence.
Nicht unerwähnt bleiben sollte aber "Not Giving Up" von Bad Assumption deren Album mich auch sehr begeistert hat und der Chorus wird von mir regelmäßig zitiert!
(Musik)buch des Jahres
Ich habe dieses Jahr 30 Bücher gelesen (Stand 23.11.) und die meisten mit Musikbezug. Da waren die ganzen Straight Edge-Bücher, die Biographie der Ärzte und ein schlechtes Buch über die Emowelle der 2000er.
Aber ein Buch hat mich umgehauen. "Die Träume anderer Leute" von Judith Holofernes war so ein Zufallsfund. Meine Freundin arbeitet im Buchhandel und ich stöberte gerade in der App ihres steuerzahlenden Arbeitsgebers und sie erwähnte nebenbei, dass Judith ein Buch rausgebracht hätte. Da ich großer Fan der Band war, musste ich es kaufen und habe es innerhalb von zwei Tagen gelesen. Es ist wirklich so gut.
Keine klassische Rockstarbiographie mit krassen Anekdoten über Gruppensex mit Groupies und Koks vom Arsch von Axl Rose, sondern ein menschliches, ehrliches Werk über ein Leben. Es tut manchmal weh, aber am Ende ist es einfach nur schön. Absolute Leseempfehlung.
Trent Reznor-Release des Jahres
Ich war echt angepisst. Reznor hat ein paar Shirt-Designs aus den 90ern wieder aufleben lassen. Coole Sache. Die Shirts sind limitiert. Schonmal doof. Aber dann kosten die einfach 60 britische Pfund (grad gemerkt, dass mein Laptop kein Symbol dafür hat), also 70€. Für ein Shirt! Inflation hin oder her, aber fick dich. Beim "The Fragile"-Hoodie fand ich den Preis schon frech, aber für ein Shirt? Verkaufen sich aber anscheinend. Ich bin also nicht der dümmste Fan.
Na jedenfalls hab ich keins gekauft, das Geld lieber in eine Patenschaft investiert und gut. Aber ein paar Tage später kam der Score zum neuen Film "Bones And All" raus. Keine überteuerte Vinylbox. Einfach nur bei bandcamp. Top. Musik auch top. Liebe wieder hergestellt. Ein bisschen sauer bin ich noch, aber naja. Vor allem ein Score, bei dem er singt. Gab es zuletzt bei "Before The Flood".
Die Musik ist atmosphärisch und ich habe wirklich Lust auf den Film. Aber allein "[You Made It Feel Like] Home" ist so wunderschön, dass ich diesen Score lieben muss.
Trent Reznor-Release des Jahres Nummer Zwei
Kurz vor Weihnachten beschenkt uns Reznor (und Ross) nun mit dem zweiten Score. Zum Film "Empire Of Light" (soll wohl eine Liebesgeschichte sein, wie "Bones And All" ja auch, aber vermutlich ohne den Kannibalismus) haben die zwei allerbesten Musiker der Welt die Musik gemacht und da fiel mir etwas auf. Reznors Score ändern sich immer noch. Während ich John Williams immer direkt erkenne (weil es alles ein wenig ähnlich klingt), hat sich die Handschrift der beiden Nine Inch Nails über die Jahre geändert, ohne aber an Erkennungswert zu verlieren. Wuchs Reznor mit klassischem Piano auf und startete später eine Industrial-Rockband, kommt ihm das Piano in den letzten Jahren mehr und mehr zu Gute. Die Score klingen nicht mehr (wie anfangs noch) wie "Ghosts I-IV" sondern sind nun eigenständige Alben, abseits von Nine Inch Nails. Es ziehen sich sanfte Synthiewände durch die Songs, umspielt vom Klavier und einigen Spielereien, die den Score lebendig werden lassen.
Reznor sagt in der Doku "Sound City" (sehr sehenswert übrigens) auch, dass er eine sehr un-punkrockige Art habe, Songs zu schreiben, weil er eben meist am Klavier anfängt und auf "Empire Of Light" lebt er dies voll aus. Die Filme zu den Scores muss ich noch sehen, aber die Musik dazu ist schon wundervoll und funktioniert auch ohne sie.
Enttäuschung des Jahres
Die Shirtpreise im Nine Inch Nails-Store und kein neues Album der Band.
Johannes Kley
Kolumnist und Konzertmuffel Joe ist Gesundheits- und Krankenpfleger in Bochum, liebt seinen Hund, liest leidenschaftlich gern, gibt ungern Bewertungen für Alben ab, ist Musikliebhaber, irgendwo zwischen (emotional) Hardcore, Vaporwave, Goth-Pop und Nine Inch Nails und versorgt euch unregelmäßig mit geistigen Ergüssen aus seiner Gedanken- und Gefühlswelt.