Die Nerven und "Fake": Kontrollverlust
23.04.2018 | Jakob Uhlig
Als deutsche Post-Punk-Könige standen Die Nerven vor allem deswegen immer an der Speerspitze ihrer Szene, weil ihr Sound so herrlich unangepasst war. Indem sich das Trio in seinen Werken in eine krachende Dissonanz nach der nächsten stürzte und zwischen nölender Gleichgültigkeit und rohem Exzess umhertangierte, fand es immer den Geist der inneren Verstörtheit, von dem man vielleicht noch nicht einmal selbst wusste, dass er in einem lebt. Die Nerven waren immer schmerzhaft, weil sie Unbequemlichkeiten zum Vorschein brachten, boten damit aber gleichzeitig einen Katalysator für Selbstreflektion und Therapie. Und nun spricht diese Band über einen Themenkomplex, der sich durch Unsicherheit definiert und damit eigentlich kaum gefasst werden kann. „Fake“ thematisiert die Verwirrung zwischen Fake News und Lügenpresse, zwischen Wahrheit und Manipulation, zwischen Ehrlichkeit zu sich selbst und Realitätsverweigerung. Die zwölf Tracks der Platte sind dabei so ambivalent wie noch nie und spiegeln das unkontrollierte Weltbild dafür umso besser wider.
In erster Linie schlägt das im Sturm kreisende Pendel von „Fake“ vor allem in die Richtung einer Menge an Songs, die zunehmend an Frontmann Max Riegers mehr als großartiges Nebenprojekt All Diese Gewalt erinnern. Gerade der Closer und Titeltrack weckt mit seiner minimalistischen Synthie-Grundlage und den säuselnd-repetitiven Vocals Assoziationen an die Electronic-Klanglandschaften von „Welt in Klammern“, aber auch Gitarren-lastigere Tracks wie „Neue Wellen“ oder „Explosionen“ befinden sich zunehmend in einer psychedelischen Schwebe und erschaffen so illusorische Scheinwelten. Ausgekontert werden diese Momente durch wesentlich schmerzhaftere Scharfkanten-Tracks wie „Frei“ oder „Skandinavisches Design“, die mit ihren grummeligen Charakteristiken stärker an die alten Die-Nerven-Platten erinnern und im Kontrast zu ihren Widerparten umso mächtiger wirken. In Perfektion geschieht das Wechselspiel zwischen Himmel und Hölle in „Dunst“, das zunächst zwischen zuckender Swans-Basslinie und rauschhafter Leichtigkeit changiert, schließlich aber in einer atemberaubenden Klimax ausbricht, die kaum merklich das Anfangsmotiv wieder aufgreift und so gleichzeitig raffiniert und gewaltig ist. Das fantastische „Niemals“ ist hingegen fast schon poppig, was der Band aber tatsächlich erstaunlich gut zu Gesicht steht.
Mit dieser musikalischen Zerrissenheit transportieren Die Nerven lyrische Botschaften, die mit ebenjenen Komplikationen der Identitätsfindung und der Suche nach Gewissheit in einer Gesellschaft voller Widersprüche selbst mit dem Chaos zu kämpfen hat. „Wo gehst du hin, wenn dich überall was stört?“, fragt „Niemals“, und liefert die nihilistische Antwort gleich im Refrain: „Finde niemals zu dir selbst.“ In „Alles falsch“ spricht die Verwirrung aus dem Protagonisten, der zwischen Selbsthass und der eigenen Beweihräucherung nicht die Mitte finden kann: „Ich mache alles falsch/Ich mache alles richtig/Wir machen alles falsch/Wir machen alles richtig.“ Im Closer gibt man sich dann fast wie in Trance doch geschlagen: „Her mit euren Lügen, her mit eurem Neid.“ Das Finale von „Fake“ ist trotz seiner musikalischen Konsonanz deswegen so überwältigend bitter, weil es die Kapitulation vor all den Problematiken darstellt, die es zuvor hervorgebracht hatte. So muss dieses Album uns Anlass geben, eine bessere Kehrtwende zu finden, damit wir nicht ähnlich erschüttert enden. Das vierte Album von Die Nerven ist gerade durch sein letztes Nachbeben ein erschreckender Trip in die eigene Seele, der musikalisch so klar und perfektionistisch wie noch nie konzipiert ist und einen dabei gleichzeitig so verwirrt wie noch nie zurücklässt. Das Leben kann grausam sein, aber immerhin haben wir das jetzt erkannt.
Wertung
Was Max Rieger anfässt, das wird wohl (fast) immer zu Gold - so auch das vierte Album von Die Nerven, das sich so gereift und trotzdem so erbittert wie nie zuvor zeigt. Nach der Reise durch diese Platte weiß ich nicht, ob ich angesichts seiner Größe glücklich oder angesichts seiner Botschaft verbittert sein soll. Die beste Antwort ist wohl, Trost in der geteilten Frustration zu finden, die "Fake" vermittelt.
Wertung
Noch nie fiel es mir so schwer, einen Höreindruck in wenigen Zeilen zu formulieren. Die Nerven haben mit „Fake“ etwas Großartiges geschaffen. Die Reise eines Subjekts, das sich selbst als Opfer in der glänzenden Scheinrealität identifiziert, an Trotz und Zorn zu ertrinken droht, vor sich selbst kapituliert und beim Versuch, neuen Werten und Bestrebungen zu folgen, in Ermangelung derselbigen an den Rande des Wahnsinns gerät. Entfremdung und die Akzeptanz des eigenen Unvermögens, eine aufrichtige Authentizität zu erschaffen, sind das schmerzvolle Resultat, dessen Schwere durch die Einsicht gemildert wird, dass das eigene Sein schlussendlich vergänglich und unbedeutsam bleibt. Die musikalische Umsetzung ist aufreibend, intensiv und hochkomplex. Die Nerven changieren zwischen leise und laut, ruhig und wild, abgeklärt und wahnhaft. Wer zu viele Pop-Ausläufer bemängelt, der nimmt das Album vermutlich nicht als Gesamtwerk wahr.
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.