Kora Winter und „Bitter“: Doch du bleibst wie der Winter
09.09.2019 | Jakob Uhlig
Die Musikindustrie ist wirklich selten fair zu Künstlern. Dennoch haben die vergangenen Jahre auch immer wieder demonstriert, dass selbst in Nischen-Genres Ausnahmewerke ihr verdientes Publikum bekommen können. Dass Touché Amoré mit ihrem einnehmenden Requiem „Stage Four“ 2016 weltweit den Sprung in deutlich größere Clubs schafften, ist ein Beleg für diese These. Dass Daughters im vergangenen Jahr mit ihrem garstigen Comeback nach zwölf Jahren Abstinenz plötzlich in zahlreichen Jahresendlisten als eine der spannendsten Bands überhaupt gehandelt wurden, ist ein befriedigendes Resümee. Und dass die Black-Metal-Blues-Fusion Zeal & Ardor eine Genre-Lücke füllen konnte, von deren Existenz vorher niemand überhaupt wusste, lässt alle Nörgler verstummen, die weiterhin darauf beharren, dass früher ja doch alles besser war.
Ein solcher Effekt blieb für die Kora-Winter-EP „Welk“ vor zwei Jahren weitgehend aus – dabei waren die gerade mal drei vollwertigen Songs dieser Platte in der Tat bemerkenswert. Die Berliner türmten mutige Mathcore-Gewitter auf, die trotz ihrer Vertracktheit nicht maximal akrobatische Tonfolgen, sondern Emotion als erste Prämisse hatten. Die kurze Spielzeit des Werks war gespickt mit tollen Ideen, die von einem Saxofon-Solo bis hin zum in einer weitläufigen Lagerhalle aufgenommen A-Capella-Interlude reichten. „Welk“ war nach Kora Winters Rohdiamanten „Blüht“ das erste Ausrufezeichen einer Band, die das Potential besaß, zu einem der spannendsten zeitgenössischen Szene-Angelpunkte zu werden. Das Debütalbum hat somit die schwere Aufgabe zu beweisen, dass sein Vorgänger nicht nur ein Glückstreffer war. Was aber „Bitter“ dieser Hürde entgegenstellt, war kaum zu erwarten.
Nur acht Songs benötigt das Quintett, um ein musikalisches Fegefeuer zu entfachen, das brutaler zu Werke geht als die schrägsten Dissonanz-Kruzifixe der meisten Noise-Acts. Der Opener „Stiche II“ erweist sich dabei noch als introvertiertester Song der Platte und öffnet unter gehetztem Atem, fernen Orgelklängen und rotierenden Gitarrennoten die atmosphärische Grundlage für den wohl gnadenlosesten Longplayer des Jahres. Mit klagendem Tonus beschreibt Frontmann Hakan Halaç sein inneres Gefühlsleben und schafft damit gleichzeitig einen impliziten Bezug zum Song „Stiche“, der auf der „Welk“-EP ein zentrales Organ dargestellt hatte: „Und ich weiß wie sehr es schmerzt/ Ich hab den Stich noch in der Brust/ Das Pumpen in den Adern/ Den Geschmack von Blut im Mund.“ Kora Winters Lyrik ist an vielen Stellen so ergreifend, weil sie Abgründe mit expliziter Schärfe darstellt, ohne dabei plump zu wirken. Wenn die Band zum Beispiel im Titelsong unnachahmlich eindringlich den Absturz in eine Drogenhölle beschreibt, dann kann man im geradezu blutspeienden Refrain kaum anders, als sich beklommen in das lyrische Ich hineinzufühlen. Die Divergenz der Geschichten auf „Bitter“ wird aber vor allem dann deutlich, wenn Halaç zwischendurch nicht schreit, sondern in sanglichere Passagen verfällt – ein Element, das sich auf Kora Winters Debütalbum wesentlich ausgeprägter als noch auf den EPs zeigt und das der Musik trotz aller Brutalität ein Stück Verletzlichkeit verleiht. „Im Eifer des Gefechts hab ich vergessen wie man lacht/ Ich hab die ganze Zeit damit verbracht nur zu schreien“, singt Halaç in „Eifer“ dazu sehr bildlich. „Bitter“ ist eine kaum zu ertragende Gefühlsohnmacht, die zwischendurch zwar immer wieder in reflektierte Ruhepole findet, aber trotzdem ständig von erneuten Rückschlägen niedergedroschen wird.
Diese verzweifelte Suche nach einer Katharsis wird vor allem deswegen so eindringlich, weil sie so überragend vertont ist. In Zeiten, in denen Metalcore und all seine Nebenableger zu einer standardisierten Jugendkultur voller Überproduktion und unerträglich austauschbarer Songstrukturen verkommen sind, ist ein Album wie „Bitter“ die kaum mehr für möglich gehaltene Antithese zu allem, was dieses Genre verdorben hat. Kora Winter gelingt es so etwa, in „Eifer“ die typisch abgehackten Riffing-Muster aus dem Architects-Lehrbuch durch den Einsatz von rasanter Melodik zu einer regelrechten Gitarrenachterbahn zu transferieren. Dabei findet das Quintett genau die Mitte zwischen Komplexität und Nahbarkeit und wirkt nicht so technisiert wie etwa The Hirsch Effekt, deren Einfluss trotzdem immer wieder deutlich auf „Bitter“ zu finden ist. Auch orchestrale Elemente ergänzen das Klangbild des Albums immer wieder. Wirkte die Saxofon-Passage auf „Welk“ noch eher wie ein isoliertes Gimmick, fließen die zusätzlichen Sound-Elemente auf dieser Platte wesentlich organischer ein, was dem Gesamtgefüge unbändig schönen Tiefgang verleiht. Die Klavierschichten auf „Das was dich nicht frisst“ bilden gemeinsam mit den wütenden Gitarren so den Sound, nach dem Bands wie Make Them Suffer seit Jahren vergeblich suchen. Und wenn sich Bassist Karsten Köberich in „Coriolis“ unterlegt von Regengeräuschen einen einnehmenden Klagegesang als Einleitung zum wortwörtlich herbeigerufenen musikalischen Zyklon von der Seele ringt, dann ist das schlicht die perfekte Kombination aus künstlerischem Anspruchsdenken und bildgewaltiger Gefühlslast.
„Bitter“ ist kein Album wie jedes andere. Was Kora Winter in knapp 40 Minuten auf Platte verpacken ist schlicht ein Ausnahmewerk, nicht nur für Screamo-Metal und Post-Hardcore, sondern auch für die gesamte breite Landschaft der harten Gitarrenmusik. Ein schweißgebadeter Albtraum, der unnachgiebig nach vorne stürmt, ohne dabei in Stumpfheit zu verfallen. „Bitter“ ist die Gratwanderung zwischen grenzenloser Wut und kummervoller Resignation, zwischen Horrorfilm und Persönlichkeitsdrama, zwischen Verkopftheit und Intuition. Am Ende dieses unsteten Trips steht man genau wie Frontmann Halaç vor der Frage, an was man eigentlich noch glauben soll. „Wann kommt mein Gnadenstoß/ Mach schnell bevor ich selbst den Vorhang zieh/ Wann kommt mein Gnadenstoß/ Ich hab vergessen ob es Engel wirklich gibt“, spricht der Sänger im Closer „Hagel“ und verlässt danach klangvoll den Ort seiner Verzweiflung. Man möchte mit ihm weinen.
Wertung
Nach dem fantastischen „Welk“ waren meine Erwartungen an Kora Winter vor zwei Jahren bereits so hoch, dass ihr Debütalbum nach derartig langer Wartezeit für mich eigentlich nur scheitern konnte. Aber auf eine Platte wie „Bitter“ kann man schlichtweg nicht vorbereitet sein. Ich habe viele Worte für dieses Werk gefunden und doch fehlen sie mir noch immer. Ein Album für die Ewigkeit.
Wertung
Mir war nicht klar, dass die "Welk"-EP in diesem Genre getoppt werden könnte. Doch dieses Album tut es. Es ist wieder so unglaublich intensiv und hat der EP genau eines wirklich voraus: Die Albumlänge steht Kora Winter einfach noch besser! Das Album, auf das ich so lange gewartet habe!
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.