Jakobs Jahresrückblick 2019
18.12.2019 | Jakob Uhlig
Album des Jahres: Wer in den letzten Monaten auch nur ansatzweise mit meiner Arbeit oder meiner Person in Kontakt gekommen ist, der wird wissen, dass an dieser Stelle nur der Name Kora Winter fallen kann. Auch ein Vierteljahr nach dem Release von „Bitter“ habe ich die Vergabe unserer allerersten 10/10 nicht zu einer Sekunde bereut. Noch immer kann ich nicht genug von diesem Meisterwerk bekommen, noch immer bereiten mir die bahnbrechend vertonten Geschichten des Albums Gänsehaut, noch immer entdecke ich neue Details, durch die das Album noch eine Nummer krasser wird. Mit dem Jahr 2019 endet ein ganzes Jahrzehnt, in dem ich musikalisch und persönlich viel erlebt habe und in dem ich mich an unglaublich vielen Stellen entwickelt habe. Aktuell gibt es keinen Zweifel daran, dass der Release von „Bitter“ für mich zu den wichtigsten musikalischen Ereignissen dieses Zeitabschnitts gehört.
Neuentdeckung des Jahres: So viele Magazine und Freunde haben mich mit penetranter Kontinuität auf die Brillanz des im vergangenen Jahr erschienen Idles-Albums „Joy As An Act Of Resistance“ hingewiesen. So richtig verstanden habe ich das alles aber erst Anfang 2019, als ich in tiefer Nacht nach einem fantastischen Tag auf einer spärlich ausgeleuchteten Landstraße entlangfuhr und in voller Lautstärke zu „Never Fight A Man With A Perm“ meine Müdigkeit weggrölte. Seitdem hat mich diese Band nicht mehr losgelassen. Eine Aufwertung gab es noch auf dem Sziget Festival, auf dem ich anfangs noch an der Entscheidung zwischen den Auftritten von Twenty One Pilots und Idles gehadert hatte und mich im Anschluss fragte, wie ich ernsthaft jemals in Erwägung ziehen konnte, in einem Meer aus kreischenden Fangirls zu den Songs von „Trench“ genügsam mit dem Kopf zu nicken. Die unfassbare Energie des Quintetts aus Bristol war da die sehr viel ehrlichere, direktere und vor allem intensivere Erfahrung.
Live-Event des Jahres: Habt ihr schon mal ein Streichquartett aus vier Helikoptern erlebt? Ich vor 2019 auch nicht. Tatsächlich habe ich mir in diesem Jahr aber wirklich den absoluten Gipfel der musikalischen Avantgarde gegeben und war in Amsterdam bei der bisher umfangreichsten Aufführung von Karlheinz Stockhausens unglaublichem Opernzyklus „Licht“. Ich bestaunte dort Soldaten, die mit Instrumenten statt mit Waffen schossen, eine riesige stählerne Vagina und ein gigantisch aufgetürmtes Orchester mit dem Teufel höchstpersönlich an der Spitze. Das Fazit aus diesem irren Erlebnis: Stockhausens Musik lebt nicht nur von waghalsigen Stunts, sondern erzeugt auch in sich eine derartig sublime Klangwelt, dass ich mich für drei Tage wirklich wie auf einem komplett anderen Planeten fühlen konnte.
Schwierigste Platte des Jahres: Ich liebe Swain und ich befürworte fast alles, was sie auf ihrem neuen Album „Negative Space“ veranstalten. Noch nie erlebte die Entwicklung der Band einen derartig frappierenden Bruch, das Songwriting des Albums ist klug, die klangliche Vielfalt beeindruckend, Casper und Jeremy Bolm sind zwei überragende Feature-Gäste. Und doch gefällt mir der Gedanke nicht, dass dieses Album wahrscheinlich das endgültige Live-Begräbnis von Swains Hardcore-Vergangenheit und den fantastischen Songs von „Howl“ sein wird. Denn ganz ehrlich: Wenn es um so eine grandiose Platte geht, dann darf ich auch mal ein Szene-Kiddie mit Scheuklappen sein.
Textzeilen des Jahres: 2019 könnte ich diese Liste wirklich problemlos ausschließlich mit Kora-Winter-Superlativen vollbekommen, aber das wäre einerseits wohl ganz schön langweilig zu lesen und würde der Breite dieses musikalischen Jahres anderseits auch nicht gerecht werden. Aber wenigstens diese eine Nennung muss noch sein. Schließlich bin ich jedes Mal wieder tief bestürzt, wenn Kora-Winter-Frontmann Hakan Halaç in „Eifer“ seine frappierend ehrliche Gefühlsdarlegung mit den Worten „Im Eifer des Gefechts hab ich vergessen wie man lacht/ Ich hab die ganze Zeit damit verbracht nur zu schreien“ eröffnet. Diese wenigen Worte sind gerade deswegen so tiefschürfend, weil sie sich nicht hinter Metaphorik verstecken und klanglich mit einem plötzlichen, reflektierenden Ruhepol einhergehen. Dass der Song anschließend doch wieder in alte Verhaltensmuster zurückstürzt – bezeichnenderweise mit einem Zitat aus Kora Winters alter EP „Welk“ – ist der vielleicht am schwersten zu verdauende Moment des Jahres.
Bester Song einer nur okayen Platte: Die Empfehlungen des geschätzten Redaktionskollegen Julius finden regelmäßig den Weg in mein Plattenregal, 2019 hat er es aber wohl das allererste Mal geschafft, mich für Deutschrap zu begeistern. Dass ausgerechnet Max Herre in diesem Jahr einer der innovativsten Neudenker des zeitgenössischen Hip-Hop-Sounds sein würde, hätte wahrscheinlich kaum jemand für möglich gehalten. Aber „Athen“ hat eben alles, angefangen beim Ambient-inspirierten Beat über das Pink-Floyd-Solo im Mittelteil bis hin zur Kontrastfolie von Herres völlig unverzerrter Stimme in den Strophen-Parts, die das Bindeglied zwischen unwirklicher Melancholie und persönlichem Kummer schaffen. Umso enttäuschender, wenn das gleichnamige Album insgesamt nicht über die Konnotation „gut“ hinauskommt. Gemessen an einer Single, die den Sound der späten 2010er-Jahre neu definieren könnte, ist das zu wenig.
Erkenntnis des Jahres: Ich hasse das dogmatische Bild von Maskulinität, das auch 2019 immer noch als Prämisse durch große Teile der Gesellschaft wabert. Dass ich mich in den letzten Jahren in meiner Persönlichkeitsauslebung so deutlich entwickeln konnte, habe ich in erster Linie meinem grandiosen und offenen Umfeld zu verdanken, dem es egal ist, dass ich manchmal Bock habe, Nagellack zu tragen. Ausgelöst wurde diese Einsicht durch die Texte des fantastischen Solodebüts von Kummer, die sich oft primär gegen die männliche Alpha-Mentalität im Deutschrap richten, aber damit eben auch Probleme fassen, die viel weiter gehen. Einerseits schön, dass sich dieser in der Retrospektive schon lang in mir verankerte Konflikt gerade durch einen lautstarken Protest manifestiert. Anderseits auch schlimm, dass wir darüber ernsthaft reden müssen.
Fragezeichen des Jahres: Mein Hype kennt noch immer keine Grenzen, wenn ich daran denke, dass Rage Against The Machine dieses Jahr ihr Live-Comeback verkündet haben und damit Hoffnung machen, dass ich eine meiner absoluten Lieblingsbands vielleicht tatsächlich irgendwann nochmal in Persona erleben werde. Das Wie hinterlässt bei mir allerdings Stirnrunzeln: Wieso werden die fünf Konzerte in den USA nur auf einem eigens dafür gegründeten Instagram-Account verkündet? Warum gibt es weder auf der Facebook-Seite der Band noch auf den sozialen Medien der einzelnen Mitglieder irgendeinen weiterführenden Kommentar dazu? Tritt die ach so gegen das System wütende Band tatsächlich beim Coachella Festival auf, hinter dem ein Mann steht, der Anti-LGBTQ-Initiativen und die amerikanische Waffenlobby unterstützt? Vielleicht steckt dahinter auch nur eine große Finte, die bisher niemand von uns durchdrungen hat. Bis dahin werden aber immerhin die Prophets Of Rage nie wieder eine Platte veröffentlichen und Tom Morello hört vielleicht auch auf, grässliche Solo-Alben zu produzieren.
Interview des Jahres: Jesse Barnett kann wieder lachen. Das war ein wahnsinnig befreiender Gedanke, nachdem ich den Stick-To-Your-Guns -und Trade-Wind-Sänger im April zum zweiten Mal in meinem Leben zum Gespräch traf. Anno 2017 hatte mich das erschreckend offene Interview mit Barnett noch erschüttert zurückgelassen, 2019 wirkt er auch in Hinsicht auf dieses Ereignis sehr viel reflektierter, gefasster und weiser. Natürlich basiert meine Bestandsaufnahme auf die Entwicklung des Sängers nur auf diesen beiden, sehr partiellen Begegnungen, aber wer den fantastischen Trade-Wind-Zweitling aus diesem Jahr gehört hat, der weiß, dass diese These nicht ganz unwahrscheinlich ist. Generell war 2019 von vielen Künstlern gezeichnet, die ihre frühere Resignation durch ein Stück neuen Lebensmut ersetzten – seien es die bereits genannten Swain oder Turnover auf dem jüngst erschienen „Altogether“.
Album-der-Woche-Moment des Jahres: Noch nie hatte ich das Gefühl, so zahlreiche Fortschritte in unserer Identität als Magazin getätigt zu haben wie 2019. Das lag mitunter auch an den sehr produktiven Redaktionstreffen, die mittlerweile regelmäßig stattfinden, und an dem vielen frischen Blut, das unser Team wirklich enorm bereichert hat. Die krasseste Erkenntnis der Dimension, die dieses ursprünglich mal ziemlich naive Blogprojekt mittlerweile angenommen hat, hatte ich aber bei unserer erstmaligen Kooperation mit dem Pegasus Open Air. Dort mit einer eigenen Sofa-Bühne vertreten zu sein, tolle Interviews zu führen und Akustik-Sessions zu veranstalten, ist schon ganz schön irre. Nächstes Jahr unbedingt wieder!
Jakob Uhlig
Jakob kommt aus dem hohen Norden und studiert zur Zeit historische Musikwissenschaft. Bei Album der Woche ist er, neben seiner Tätigkeit als Schreiberling, auch für die Qualitätskontrolle zuständig. Musikalisch liebt er alles von Wiener Klassik bis Deathcore, seine musikalische Heimat wird aber immer die Rockmusik in all ihren Facetten bleiben.